Somit werden in der Darstellung der vier Wahrheiten die Dinge wie Geburt usw. ('usw.' bezieht sich auf alle oben im Text der vier Wahrheiten vorkommenden Begriffe) gelehrt, und mit Hinsicht auf Feststellung dieser mit Geburt beginnenden Dinge hat man hier die Erklärung zu verstehen.
Der Begriff 'jāti' (Geburt usw.) nämlich hat vielerlei Bedeutungen:
Hierunter nun ist bei den Leibgeborenen die Geburt zu verstehen mit Hinsicht auf die von der Empfängnis ab bis zum Austritte aus dem Mutterleibe im Gange befindlichen Daseinsgruppen, bei den anderen Wesen aber bloß mit Hinsicht auf die im Momente der Empfängnis bestehenden Gruppen. Doch auch dieses ist eine bloß im beschränkten Sinne gültige Darlegung.
Genau genommen nämlich gilt als 'Geburt' das erste Erscheinen derjenigen Gruppen, die jedesmal beim Wiedergeborenwerden dieser oder jener Wesen in Erscheinung treten.
Diese Geburt aber hat als Merkmal, daß sie in jedem Dasein als erstes
auftritt, als Wesen das Zuweisen (zu neuer Daseinsform), als Äußerung das
Hervorkommen aus dem früheren Dasein in dieses, als Grundlage die Vielartigkeit
des Leidens.
Weil sie die Grundlage bildet zu all den mannigfachen Leiden. Mannigfach,
wahrlich, sind die Leiden als wie da sind: in Schmerzen bestehendes Leiden, im
Wechsel bestehendes Leiden, das Leiden der Daseinsgebilde, verstecktes Leiden,
unverhülltes Leiden, indirektes Leiden, direktes Leiden.
Hierunter nun gelten die körperlichen und geistigen Schmerzgefühle, da sie sowohl ihrer Natur nach als auch der Bezeichnung nach schmerzvoll sind, als das 'in Schmerzen bestehende Leiden' (dukkha-dukkha).
Weil das Freudegefühl infolge seines Wechsels die Bedingung bildet zur Entstehung von Leiden, darum gilt es als das im Wechsel bestehende 'Leiden' (viparināma-dukkha).
Weil das indifferente Gefühl, genau so wie die übrigen Gebilde der drei Daseinsebenen, durch Entstehen und Vergehen bedrückt werde, darum gelten sie als das 'Leiden der Daseinsgebilde' (sankhāra-dukkha).
Als 'verstecktes Leiden'(paticchanna-dukkha) gelten körperliche oder geistige Leiden, wie Ohren- oder Zahnleiden usw., oder durch Gier oder Haß bedingtes Fieber usw., falls diese Leiden bloß auf Nachforschungen hin erkennbar sind und der Anfall nicht offensichtlich ist; auch als 'nichtoffensichtliches Leiden' (apākata-dukkha) wird solches bezeichnet.
Als 'unverhülltes Leiden' (appaticchanna-dukkha) gilt das durch die 32 Foltern (s.M.13; A.II.1) bedingte Leiden, da dieses schon ohne zuforschen erkennbar und die Veranlassung dazu offensichtlich ist; auch als 'offensichtliches Leiden' (pākata-dukkha) wird solches bezeichnet.
Abgesehen von dem in Schmerzen bestehenden Leiden gilt alles in Vibhanga (Vibh. IV) in der Besprechung der Leidenswahrheit angeführte und mit Geburt beginnende Leiden, da es die Grundlage zu diesem und jenem Leiden bildet, als 'indirektes Leiden' (pariyāya-dukkha).
Das in Schmerzen bestehende Leiden aber bezeichnet man als das 'direkte Leiden' (nippariyāya-dukkha).
Hierbei nun gilt die "Geburt" deshalb als Leiden, weil sie die Grundlage bildet
für jene höllischen Leiden, die der Erhabene in der Sutte vom Weisen und Toren (M.129)
in Gleichnissen beschrieben hat, und auch weil sie die Grundlage bildet für
jenes selbst auf glücklicher Fährte in der Menschenwelt entstandene und in
Empfängnis (gabbhokkanti) usw. wurzelnde Leiden'.
Dieses im Mutterschosse entstehende Wesen entsteht nicht etwa inmitten blauer, roter oder weißer Lotusblüten u. dgl. Sondern, genau wie ein Wurm in faulem Fisch oder abgestandenem Rahme oder einem schmutzigen Tümpel usw. zum entstehen kommt, so auch entsteht dieses Wesen unterhalb des Magens und oberhalb des Mastdarms zwischen Magenhaut und Wirbelsäule, an einer ganz engen, finsteren, von vielen Leichengerüchen durchschwängerten und von höchst übelriechenden Winden durchwehten maßlos ekelhaften Stelle des Leibes. Dort empfangen, hat das Wesen zehn Monate lang äußerste Schmerzen zu erleiden, währenddessen es, infolge der in der Gebärmutter erzeugten Hitze wie eine Pastete backend oder wie ein Mehlkloß dampfend, außerstande ist, sich zu bewegen oder auszustrecken. Dies ist vorerst das in der 'Empfängnis' im Mutterleibe wurzelnde Leiden.
Wenn die Mutter aber plötzlich fällt, geht, sich setzt, aufsteht, sich umdreht usw., so hat das Kind infolge solcher Handlungen wie Ziehen, Umherzerren, Schütteln und Erschüttern äußerste Schmerzen auszuhalten, genau wie ein Zicklein in den Händen eines Trinkers oder eine junge Schlange in den Händen des Schlangenbändigers. Heftige Schmerzen empfindet das Kind auch, wenn die Mutter kaltes Wasser trinkt, gleichsam als ob es in die Kalte Hölle gestürzt sei. Oder, wenn die Mutter heißen Brei oder Reis verzehrt, ist ihm als ob glühende Kohlen auf es niederregneten. Oder, wenn die Mutter etwas Salziges, Saures u. dgl. genießt, ist ihm als ob es geätzt würde oder ähnliche Foltern zuerleiden habe. Dies ist das im 'Verweilen' im Mutterschoße wurzelnde Leiden.
Wenn nun die Mutter eine Fehlgeburt hat und an der, selbst für gute Bekannte und Freunde zu sehen unpassenden Stelle des Leidenssitzes, durch Schneiden, Öffnen u. dgl. Eingriffe gemacht werden, so steigt dabei in dem Kinde Leiden auf. Das ist das in 'Fehlgeburt' wurzelnde Leiden.
Während die Mutter das Kind gebärt und infolge der durch früheres Karma bedingten Winde (oder rheumatische Leiden) sich umherwälzt, leidet das Kind als ob es in die Hölle gefallen sei. Ebenso leidet es, wenn es durch den so gefahrvollen Gebärmuttergang durchgestoßen und durch den äußerst engen Gebärmuttermund herausgezogen wird, gerade wie eine große Brillenschlange, die durch ein Schlüsselloch hindurchgezogen wird, oder ein von den Bergesmassen zermalmtes Höllenwesen (naraka-satta). Dies ist das im 'Gebären' wurzelnde Leiden.
Während man aber den einer frischen Wunde gleichenden Körper des Neugeborenen
anfaßt, badet, wäscht, mit einem Tuche abwischt usw., empfindet das Kind
Schmerzen, als ob es mit Nadelspitzen gestochen oder mit Rasiermesserschneiden
u. dgl. geschnitten würde. Dies ist das im 'Heraustreten' aus dem Mutterleibe
wurzelnde Leiden.
Ferner trifft im Verlaufe des Lebens denjenigen Pein, der sich das Leben nimmt oder, wie die Nackten Asketen u.a., der Selbstqual und Kasteiung hingegeben ist, oder der aus Zorn keine Nahrung zu sich nimmt, oder sich aufhängt. Dies ist das in eigenen Handlungen wurzelnde Leiden.
Das Leiden aber, das einer erfährt, wenn er von anderen geschlagen und gefesselt wird u. dgl., dies ist das in den Handlungen anderer wurzelnde Leiden.
Somit bildet für alle diese Leiden die Geburt (jāti) die Grundlage. Darum heißt es:
Entstände da kein Wesen in der Hölle,
Wo gäb's da eine Stätte für solch' Leiden.
Das unerträglich ist wie Feuersgluten?
Drum nennt der weise die Geburt ein Leiden.Gar viele Schmerzen hat das Tier zu leiden,
Gequält durch Peitschen-, Stock- und Rutenhiebe.
Wie gäb's solch Leiden, wenn nicht durch Geburt?
Drum nennt man die Geburt ein Leiden.Vielart'ges Leid entsteht unter Gespentern
Durch Durst und Hunger, Wind und Sonnenglut.
Nicht gäb's ohne Geburt dort solches Leiden.
Ein Leiden drum nennt die Geburt der Weise.Das Leiden der Dämonen in der Zwischenhölle
Der finsteren und unerträglich kalten,
Trifft nimmer einen, der nicht dort geboren.
So gilt denn als ein Leiden die Geburt.Furchtbar zu leiden hat das Kind, das lang im Mutterleib,
In solcher Dreckhöhle, verweilt und dann nach außen tritt.
Solch Leiden aber könnte nie besteh'n ohne Geburt.
Somit hat man Geburt als Leiden zu betrachten stets.Wozu der vielen Worte noch? Wo immer Leiden hier
Besteht in irgend einer Form, kann da wohl irgend wann
Solch Leid entsteh'n ohne Geburt? Drum hat der weise Herr
Als Allererstes die Geburt als Leiden dargetan.
Dies ist vorerst die Erklärung hinsichtlich der Geburt.
Merkmal alles Erschaffenen, und während des Lebensfortganges das als Gebrechlichkeit usw. geltende Altwerden der in einem einzelnen Dasein eingeschlossenen Daseinsgruppen. Dies letztere ist hier gemeint.
Das Altern hat als Merkmal das Absterben der Daseinsgruppen, als Wesen, daß es dem Tode näher führt, als Äußerung, daß es die Jugend zerstört.
Leidvoll ist das Altern, insofern es das Leiden der Daseinsgebilde ausmacht
und insofern es seine Grundlage bildet. Was immer in Abhängigkeit von den
zahlreichen Bedingungen an körperlichen und geistigen Leiden aufsteigt, als wie
Schlaffwerden aller Gliedmassen, Störung der Sinnesorgane, Verlust der Jugend,
Kräfteverfall, Gedächtnisschwäche und Gedankenlosigkeit, Verhöhnung durch andere
u. dgl.: - alles dieses Leiden hat das Alter zur Grundlage. Darum heißt es:
Sei's die Erschlaffung aller Glieder,
Verlust der Sinnentätigkeit,
Das Hinschwinden der einst'gen Jugend,
Sei's der Verlust an Körperkraft,Sei's daß die eigene Familie,
Das eig'ne Kind, die eig'ne Frau,
Den geistig schwachen Mann verhöhnt,
Sei's das er immer kind'scher ('bālatta' - Kindischsein): -Was derart körperlich wie geistig
Der Sterbliche zu leiden hat,
All das durch's Alter ist bedingt.
Drum Alter als ein Leiden gilt.
Dies ist die Erklärung hinsichtlich des Alterns.
1. 'Merkmal alles Erschaffenen'; weshalb es auch heißt (Dhs.l,152-54):
Altern und Sterben sind in zwei Daseinsgruppen (der Körperlichkeits- und der Bewußtseinsgruppe) einbegriffen;
2. 'Zerfall des in einem einzelnen Dasein eingeschlossenen Lebensfadens'; weshalb es auch heißt (Snp.576), beständig vor dem Tode Furcht'. Dies letztere ist hier gemeint. Sterben bezeichnet den durch Geburt bedingten Tod, gewaltsamen Tod natürlichen Tod, Versiegung des Lebens oder Aufzehrung des verdienstvollen Karmas.
Das Sterben hat als Merkmal das Hinschwinden, als Wesen die Trennung, als
Äußerung das Verlassen der Daseinsfährte. Als ein Leiden aber hat man das
Sterben insofern aufzufassen, als es eine Grundlage zum Leiden bildet. Darum
heißt es:
Beim Bösen, seiner Tat bewußt,
Oder des Merkmals seiner Tat (*),
beim Guten, der von den Geliebten
Die Trennung nicht ertragen kann:
(*) Im Momente des Sterbens erscheint im Geiste eine von einem während des
Lebens begangene gute oder böse 'Tat' (kamma), oder irgend ein 'Abzeichen
der Tat (kamma-nimitta), oder ein 'Abzeichen der (künftigen)
Daseinsfährte' (gati-nimitta)
Was immer da beim Sterbenden
An geist'gem Leiden auch besteht,
Und was an körperlichem Leid,
Unheilbar - unerträglichem,
Sei's die Zerreißung seiner Sehnen,
Sei's die Verletzung der Gelenke : -Für alle diese Leiden bildet,
Die einz'ge Grundlage der Tod.
Und eben darum nennet man
Den Tod ein Leiden allerwärts.
Dies ist die Erklärung hinsichtlich des Sterbens.
,Sorge' (soka): - Als Sorge gilt die Herzenspein des vom Verluste
seiner Verwandten oder von ähnlichen Verlusten Betroffenen. Obgleich die Sorge
dem Sinne nach dasselbe ist wie Trübsal, so hat sie doch als Merkmal das
innerliche Brennen, als Wesen das Auflodern des Herzens, als Äußerung das
Bekümmertsein. Als Leiden aber gilt die Sorge, weil sie leidvoll ist im Sinne
von Schmerzgefühl und weil sie eine Grundlage zum Leiden bildet. Darum heißt es:
Der Wesen Herz durchbohret da
Die Sorge wie ein gift'ger Pfeil;
Und heftig wie ein glüh'nder Pfeil
Die Sorge immer weiter brennt.Sie ziehet nach sich Kränklichkeit,
Selbst Altern, Sterben und Verfall,
Und andre mannigfache Leiden,
Drum wird ein Leiden sie genannt.
Dies ist die Erklärung mit Hinsicht auf die Sorge.
Als 'Klage' (parideva) gelten die wehklagenden Worte des von dem
Verluste seiner Verwandten oder ähnlichen Verlusten Betroffenen. Die Klage hat
als Merkmal den Jammer, als Wesen das Ausrufen von Vorzügen und Fehlern, als
Äußerung die geistige Zerfahrenheit. Als Leiden gilt die Klage, weil sie
leidvoll ist im Sinne eines Daseinsgebildes und weil sie eine Grundlage zum
Leiden bildet. Darum heißt es:
Getroffen von der Sorge Stachel klaget laut der Mensch,
Und dadurch daß ihm Kehle, Lipp' und Gaumen trocknen,
Das Leiden immer heftiger und unerträglich wird.
Drum hat die Klage der Erhabene ein Leid genannt.
Dies ist die Erklärung hinsichtlich der Klage.
Mit 'Schmerz' (dukkha) wird hier der körperliche Schmerz bezeichnet.
Derselbe hat als Merkmal, daß er den Körper peinigt, als Wesen, daß er bei den
Einsichtslosen Trübsal bewirkt, als Äußerung, daß er den bedrückt. Er gilt als
Leiden, weil er leidvoll ist im Sinne von Schmerzgefühl und weil er zu geistigem
Leiden hinführt. Darum heißt es:
Der Körperschmerz bedrückt den Menschen
Und rufet geist'gen Schmerz hervor.
Das ist der Grund, daß ganz besonders
Der Körperschmerz als Leiden gilt.
Dies ist die Erklärung hinsichtlich des Schmerzes.
Mit 'Trübsal' (domanassa) wird der geistige Schmerz bezeichnet. Die
Trübsal hat als Merkmal, daß sie das Herz peinigt, als Wesen, daß sie das Herz
quält, als Äußerung die geistige Bedrückung. Sie gilt als Leiden, weil sie
leidvoll ist im Sinne von Schmerzgefühl und weil sie zu körperlichem Leiden
hinführt. Diejenigen nämlich, die von geistigem Leiden betroffen sind, jammern
mit aufgelösten Haaren, schlagen sich die Brust, wälzen sich auf dem Boden hin
und her oder sie stürzen sich kopfüber zu Boden, greifen zum Messer,
verschlingen Gift, erhängen sich oder stürzen sich in die Flammen und erfahren
so mannigfaches Leiden. Darum heißt es:
Weil sie das eig'ne Herz bedrückt,
Zu körperlichen Qualen führt,
Erklären die von Trübsal Freien
Die Trübsal als ein großes Leid.
Dies ist die Erklärung hinsichtlich der Trübsal.
Mit 'Verzweiflung' (upāyāsa) bezeichnet man die durch übermäßiges
geistiges Leiden erzeugte Wut in einem von dem Verluste seiner Verwandten oder
einem ähnlichen Verluste Betroffenen. Einige behaupten, daß Verzweiflung ein in
der Gruppe der Geistesformationen eingeschlossene Erscheinung sei. Die
Verzweiflung hat als 'Merkmal, daß sie im Herzen brennt, als Wesen das Stöhnen,
als Äußerung die Beklemmung. Als Leiden gilt sie, weil sie leidvoll ist im Sinne
eines Daseinsgebildes und weil sie im Herzen brennt und die Seele beklemmt.
Daher heißt es:
Durch Brennen im Herzen und äußerste Seelenbeklemmung
Zeugt Leid die Verzweiflung, und darum als Leiden sie gilt.
Dies ist die Erklärung hinsichtlich der Verzweiflung.
Unter diesen Leidensformen nun mag man die 'Sorge' vergleichen mit der in
einem Topfe auf schwachem Feuer gekochten Speise,
die Verzweiflung mit dem nach dem Überkochen übrigbleibenden Rest, der nicht
überkochen kann und bis zum Auftrocknen im Topfe verbleibt.
"Mit Unlieben verbunden sein": - Darunter versteht man das Zusammentreffen mit unangenehmen Personen und Dingen. Diese Leidensform hat als Merkmal das Zusammentreffen mit Unerwünschtem, als Wesen die geistige Beklemmung, als Äußerung die Entstehung von Nachteil. Sie gilt als Leiden, weil sie eine Grundlage zum Leiden bildet. Daher heißt es:
Wenn Unliebsames man erblickt,
Erst geist'ges Leiden sich erhebt;
Tritt jenes aber nah' heran,
Kommt's auch zu körperlichem Leid.Weil beides Leid in solchem Umstand wurzelt,
Hat er, der Weise, ibn ein Leid genannt.
So sollte man versteh'n den Sinn der Worte:
'Mit Unliebem verbunden sein ist Leid'.
Dies ist die Erklärung hinsichtlich der Worte: 'Mit Unliebem verbunden sein'.
Leiden hinsichtlich von Liebem getrennt sein: "Von Liebem getrennt sein": -
Hierunter versteht man das Getrenntsein von angenehmen Personen und Dingen.
Diese Leidensform hat als Merkmal das Getrenntsein von erwünschten Objekten, als
Wesen das Erzeugen der Sorge, als Äußerung den Verlust. Als Leiden aber gilt
sie, insofern sie die Grundlage zu Sorgen und Leiden bildet. Daher heißt es:
Durch Trennung von Schätzen und Sippe werden die Toren
vom Sorgenpfeile durchbohrt,Und darum wird eben dieses Getrenntsein von Liebem
als Leid aufgefaßt.
Dies ist die Erklärung hinsichtlich der Worte: 'Von Liebem getrennt sein'.
"Was wünschend man nicht erlangt": - Der Wunsch nach unerreichbaren Dingen, wie etwa: 'Ach, möchten wir doch nicht der Wiedergeburt ausgesetzt sein! usw.': das gilt als der Sinn der Worte 'Was wünschend man nicht erlangt, ist Leiden'. Dieses hat als Merkmal das Wünschen von unerreichbaren Dingen, als Wesen das Streben danach, als Äußerung das Nichterlangen derselben. Als Leiden gilt es insofern, als es eine Grundlage bildet zum Leiden. Daher heißt es:
Wenn dies und das, was sie begehren,
Den Wesen nicht erreichbar ist,
Befällt durch Gram gewirktes Leiden
Die Wesen hier in dieser Welt.
Weil dieses in dem Wunsche wurzelt
Nach dem was unerreichbar ist,
Drum gilt dem Siegreichen als Leiden
'Nicht das erlangen, was man wünscht'.
Dies ist die Erklärung hinsichtlich der Worte: "Was wünschend man nicht erlangt".
Hierzu heißt es:
Das ganze Leid von der Geburt ab -
Was auch der Heilige erklärt hat,
Und was er unerklärt gelassen -
Nicht gibt's das ohne diese fünf.
Drum hat der hohe heil'ge Herr,
Der's Leidensende hat gelehrt,
Die Haftensgruppen, kurz gesagt,
Als dieses Leiden dargelegt.
Fernerhin, gleichwie das Feuer den Brennstoff ergreift, die Geschosse die
Zielscheibe durchbohren, die Bremsen, Moskiten und andere Insekten den Körper
der Kuh quälen, die Schnitter das Reisfeld mähen, die Räuber das Dorf plündern,
genau so bedrängen jene Dinge wie Geburt usw. die fünf Anhaftungsgruppen. Gerade
nämlich wie die Gräser, Schlingpflanzen u. dgl. auf dem Boden oder die Blüten,
Früchte und Sprossen an den Bäumen entstehen, so treten jene Dinge in den
Anhaftungsgruppen in Erscheinung.
Für die Anhaftungsgruppen bildet:
'Geburt' das Leiden am Anfang,
Altern das Leiden in der Mitte,
Sterben das Leiden am Ende.
Als 'Sorge' gilt das durch Einwirkung von lebensverkürzenden Qualen verzehrende Leiden.
Als 'Klage' gilt das durch Wehklagen sich äußernde Leiden in einem Menschen, der jene Sorge nicht länger ertragen kann.
Als 'Schmerz' gilt das körperlich bedrückende Leiden, das bedingt ist durch das als Störung der Körpersäfte geltende Zusammentreffen mit unerwünschten Körpereindrücken.
Als 'Trübsal' gilt das geistig bedrückende Leiden, das in den von jenen körperlichen Leiden bedrückten Weltlingen infolge des Widerwillen dagegen aufsteigt.
Das durch Anwachsen der Sorge usw. bewirkte Niedergeschlagensein und innere Qual ('anutthunana = anutthunā, wird vom Kom. erklärt als 'anto-nijjhāyana', innerliches Verzehrtwerden) gelten als die 'Verzweiflung'.
Als das 'Nichterlangen des Gewünschten' gilt das im Fehlschlagen aller Hoffnungen bestehende Leiden, das in denjenigen aufsteigt, deren Herzenswünsche fehlgeschlagen sind.
Untersucht man nun somit auf solche mannigfache, Weise die Anhaftungsgruppen, so erkennt man, daß bloß diese das, Leiden ausmachen. Nicht möglich aber ist es, selbst während vieler Zeitspannen, alle diese Leiden einzeln darzulegen und vollständig zu erklären. Um daher alle diese Leiden zu zeigen, faßte sie der Erhabene in den 5 Anhaftungsgruppen zusammen - genau so wie der Geschmack des ganzen Meerwassers ja schon in einem einzigen Tropfen Meerwasser enthalten ist - und erklärte (M.141): "Kurz gesagt, die fünf Anhaftungsgruppen sind Leiden".
Dies ist die Erklärung mit Hinsicht auf die Anhaftungsgruppen.
Hier endet die Erklärung des Leidens.
(8.II). Darstellung der Leidensentstehung (dukkha-samudaya)
In der Darstellung von der Leidensentstehung ist "yâyam tanhā" dasselbe wie "yā ayam tanhā" (dieses Begehren).
"Wiedergeburterzeugend": - Als Wiedergeburt (puna-bbhava) gilt das Wiedergebären. Das aber, was diese Eigenschaft der Wiedergeburt besitzt, gilt als 'wiedergeburterzeugend' (ponobbhavika).
"Von Lust und Gier begleitet" ist soviel wie: zusammen mit Lust (nandi) und Gier (rāga) zur Einheit verbunden.
"Hier und dort Vergnügen suchend" besagt: "Vergnügen suchend" wo immer die Persönlichkeit wiedergeboren wird.
"Nämlich" ist eine grammatische Partikel mit der Bedeutung: 'und welcherart ist dies?'
"Sinnliches Begehren, Daseinsbegehren (*), Selbstvernichtungsbegehren (kāma-tanhā, bhava-tanhā, vibhava-tanhā). - Diese 3 Arten des Begehrens werden in der Darstellung von der Bedingten Entstehung klar werden. Obwohl dieses Begehren dreifach ist, muß es hier doch verstanden werden als auf die (eine) Edle Wahrheit von der Leidensentstehung bezogen, da es wegen seines Erzeugens der Leidenswahrheit als einheitlich zu nehmen ist.
(*) Das 'Daseinsbegehren' (bhava-tanhā) beruht auf der falschen Vorstellung eines 'ewigen' Ichdaseins (bhava- oder sassata-ditthi, 'Ewigkeitsansicht'), das 'Selbstvernichtungsbegehren' (vibhava-tanhā) aber auf der falschen Vorstellung eines 'zeitlichen', beim Tod der Vernichtung anheimfallenden Ichdaseins (vibbava- oder uccheda-ditthi 'Vernichtungsansicht')
(8.III). Darstellung der Leidenserlöschung (dukkha-nirodha)
In der Darstellung von der Leidenserlöschung wird in den Worten "Was da eben
hinsichtlich jenes Begehrens usw." (tassāyeva tanhāya asesa-virāga-nirodha)
die Aufhebung der Entstehungsursache gelehrt. Und wieso? Weil eben durch
Aufhebung der Entstehungsursache die Leidenserlöschung bedingt ist. Denn durch
Aufhebung der Entstehungsursache schwindet das Leiden, nicht anders. Darum heißt
es (Dhp.338):
"Gleichwie, wenn unversehrt und stark die Wurzel ist,
Der abgehau'ne Baum von neuem wieder wächst,
Genau so steigt, wenn nicht entwurzelt ist die Gier,
Von neuem immer wieder dieses Leiden auf."
Weil somit durch Aufhebung der Entstehungsursache das Leiden zum schwinden kommt, darum hat eben der Erhabene die Erlöschung des Leidens durch Aufhebung der Entstehungsursache gelehrt.
Den Löwen gleich, wahrlich, handeln die Vollendeten: Während sie das Leiden zur Aufhebung bringen und die Leidensaufhebung verkünden, befassen sie sich mit der Ursache, nicht mit der Wirkung. Wie Hunde aber handeln die Andersgläubigen: Während sie das Leiden zur Aufhebung bringen und die Leidensaufhebung verkünden, befassen sie sich nicht mit der Ursache, sondern mit der Wirkung, indem sie die Übung der Selbstkasteiung lehren. Auf diese Weise hat man den Sinn der Lehre aufzufassen, daß nämlich durch Aufhebung der Entstehungsursache die Erlöschung des Leidens bedingt ist. Folgendes ist die Erklärung der Worte:
"Eben hinsichtlich jenes Begehrens" bedeutet da: eben hinsichtlich jenes als wiedergeburterzeugend bezeichneten und in sinnliches Begehren usw. eingeteilten Begehrens.
Als "Loslösung" (virāga) wird der Pfad (des Stromeingetretenen usw.) bezeichnet'. Es heißt nämlich (S.22.12) "Durch Loslösung wird er erlöst". "Virāga-nirodho" ist soviel wie "virāgena nirodho", d.i. Erlöschung durch Loslösung. "Asesa-virāga-nirodho" - wörtl. 'restlose Erlöschung durch Loslösung' - bezeichnet also die restlose Erlöschung im Sinne von völliger Ausrottung der Neigungen. Oder aber als Loslösung bezeichnet man die Uberwindung, sodaß der Zusammenhang hier so auf zufassen ist: 'die restlose Loslösung und die restlose Erlöschung'.
Der Bedeutung nach sind alle diese Worte Synonyme von Nirwahn, denn im höchsten Sinne wird die edle Wahrheit von der Leidenserlöschung als das Nirwahn bezeichnet. Weil aber, zum Nirwahn kommend, man sich des Begehrens entäußert und dieses zur Erlöschung gelangt, darum bezeichnet man das Nirwahn als die Loslösung und als die Erlöschung. Und weil, zum Nirwahn kommend, jenes Begehrens Verwerfung usw. eintritt und auch keine einzige von den Anhaftungen, wie z.B. an den Sinnenobjekten mehr besteht, darum bezeichnet man das Nirwahn als das 'Verwerfen, Fahrenlassen, als Befreiung und Nichtanhaftung'.
Das Nirwahn hat als Merkmal den Frieden, als Wesen das Todlodse oder die Besänftigung, als Äußerung das Merkmallose (animitta) oder von Mannigfaltigkeit Freie (nippapañca).
'Ist wohl das Nirwahn etwas Nichtwirkliches im Sinne von Nichtzuentdeckendem, wie etwa das Horn eines Hasen?' - Nein denn es gibt ein Mittel, durch das es erreicht werden kann; erreicht wird es nämlich durch das in angemessenem Wandel bestehende Mittel, genau wie auch vermittels der geistdurchdringenden Erkenntnis das überweltliche Bewußtsein anderer erkannt wird. Daher darf man nicht sagen, daß es kein Nirwahn gäbe, aus dem Grunde, daß es nicht aufzufinden sei. Denn nicht darf man behaupten, daß, weil etwas törichten Menschen nicht erreichbar ist, dieses auch in Wirklichkeit nicht bestehe. Ferner darf man auch nicht behaupten, daß das Nirwahn nicht sei; denn der rechte Wandel bleibt doch nicht ohne Frucht. Gäbe es nämlich kein Nirwahn, so würde der von rechter Erkenntnis geleitete und in den 3 Gruppen, wie Sittlichkeit, Sammlung und Wissen, eingeschlossene rechte Wandel sich als fruchtlos erweisen. Dieser Wandel aber ist nicht fruchtlos, weil man eben dadurch das Nirwahn erreicht.
'Eine Fruchtlosigkeit des rechten Wandels ergibt sich dabei nicht, denn das Nichtsein wird ja dadurch erreicht'. - Das trifft nicht zu. Denn durch das (bloße) Nichtsein der vergangenen und künftigen (Daseinsgruppen) ergibt sich ja noch nicht die Erreichung des Nirwahns.
'Gilt wohl das Nichtsein der gegenwärtigen Gruppen als das Nirwahn ?' - Nein, und zwar deshalb nicht, weil ihr Nichtsein eine Unmöglichkeit ist, denn im Falle ihre Nichtseins ergibt sich ja ihre Nichtgegenwart; ferner würde sich dann daraus der Fehler ergeben, daß es in dem von den gegenwärtigen Gruppen abhängigen Pfadmomente keine Erreichung des mit Daseinssubstraten behafteten Nirwahn-Elementes gäbe.
Darauf möchte man (in Einschränkung der vorigen Behauptung) sagen:
'Wenn man das Nirwahn als das Nichtgewärtigsein der Geistestrübungen auffaßt, dann dürfte dies wohl kein Fehler sein.' - Doch, es ist ein Fehler; denn der edle Pfad würde zwecklos werden. Weil nämlich in Fällen, wenn schon vor dem edlen Pfadmoment keine Trübungen bestehen (nämlich, zeitweilig, auch im weltlich-heilsamen Bewußtsein), der edle Pfad zwecklos würde, darum ist jene Meinung unbegründet.
'Gilt das Nirwahn nicht wohl als gleichbedeutend mit Vernichtung wenn es heißt (S.38.1): "Versiegung der Gier, o Bruder, Versiegung des Hasses, Versiegung der Verblendung, das, o Bruder, nennt man das Nirwahn" ? - Nein, denn auch die Heiligkeit würde dann bloße Vernichtung sein, da auch diese mit denselben Worten als Versiegung' der Gier usw. (ib. 2) bezeichnet wird. Fernerhin würde das Nirwahn auch den Fehler besitzen, daß es nur eine kurze Zeit bestände. In diesem Falle wäre nämlich das Nirwahn nur von kurzer Dauer, besäße das Merkmal von etwas Erschaffenem und könnte unabhängig von rechter Anstrengung erreicht werden. Und da es das Merkmal von etwas Erschaffenem besäße, wäre es im Erschaffenen eingeschlossen; und da es im Erschaffenen eingeschlossen wäre, würde es vom Feuer der Gier, des Hasses und der Verblendung verzehrt; und da es von diesem Feuer verzehrt würde, verfiele es dem Leiden.
'Dann ist es aber doch wohl kein Fehler zu sagen daß das Nirwahn in jener Vernichtung bestehe, nach der es keine weitere Entstehung (von Gier usw.) mehr gibt?' - Doch, es ist ein Fehler, weil nämlich das Nirwahn nicht in einer solchen Vernichtung besteht; ferner weil, selbst wenn es eine solche gäbe, es dann zutreffen würde, daß der edle Pfad mit dem Nirwahn identisch wäre. Weil nämlich der edle Pfad die Fehler zur Versiegung bringt, darum wird er als Versiegung bezeichnet. Von da ab giebt es kein weiteres Aufsteigen von Fehlern mehr. Weil aber für die als Nichtmehrentstehen und Erlöschung geltende Versiegung das Nirwahn in gewissem Sinne die Grundlage bildet, so wird mit Rücksicht auf das Nahesein dessen, wofür es die Grundlage bildet, das Nirwahn als 'Versiegung' bezeichnet.
'Warum aber wurde das Nirwahn nicht seiner Natur entsprechend bezeichnet?' - Wegen seiner äußersten Subtilität. Diese Subtilität nämlich zeigt sich darin, daß sie den Erhabenen (unmittelbar nach Erreichung der Vollen Erleuchtung) zur Untätigkeit geneigt gemacht hatte, und darin, daß das Nirwahn nur dem heiligen Auge erkennbar ist. Und da dieses Nirwahn nur von einem auf dem Pfade Wandelnden erreicht werden kann, so gilt es als etwas Ungewöhnliches. Weil es aber keinen ersten Anfang hat, hat es auch keine Entstehung.
'Wenn es aber im Pfade anwesend ist, so hat es doch wohl sicher eine Entstehung?' - Nein, es wird nicht durch den Pfad erzeugt. Durch den Pfad nämlich kann es nur erreicht, aber nicht erzeugt werden. Darum hat es eben keine Entstehung. Und weil es keine Entstehung hat, ist es frei von Altern und sterben. Und weil es frei ist von Entstehen, Altern und Sterben, darum ist es unvergänglich.
'Dann hat wohl das Nirwahn (dieselbe Art von) Unvergänglichkeit wie die Atome (anu) usw. ('usw.' bezieht sich nach dem Kom. auf Urstoff, pakati, skr. prakrti, Zeit, kāla, Weltordnung, Weltseele, purisa, skr. Purusha, usw).?' - Nein, denn dazu fehlt der zureichende Grund.
'Sind wohl auf Grund der Unvergänglichkeit des Nirwahns auch diese Dinge unvergänglich?' - Nein, denn kein Merkmal eines zureichenden Grundes zeigt sich.
'Sind diese Dinge wohl nicht durch Abwesenheit des Entstehens usw. unvergänglich wie das Nirwahn?' - Nein, solche Dinge wie die Atome u. dgl. erfüllen diese Bedingung nicht. Aus dem besagten Grunde gilt eben bloß das Nirwahn als unvergänglich; und weil es die Natur der Körperlichkeit überschreitet, als 'unkörperlich'. Weil es für die Erleuchteten usw. hinsichtlich des Zieles keine Verschiedenheit gibt, so besteht für sie bloß dieses einzige Ziel.
Als "mit einem Daseinsreste behaftet" (sa-upādi-sesa) gilt das Nirwahn, wenn es sich zusammen mit einem Daseinsreste (den Daseinsgruppen) zeigt, insofern es dann in demjenigen, der das Nirwahn erreicht hat, auf Grund des Gestilltseins der Trübungen und auf Grund des Daseinsrestes erkennbar ist. Wenn aber bei einem solchen durch Überwindung der Entstehungsursache und Aufhebung der Karmawirkung, vom letzten Bewußtseinsmomente seines Sterbens ab keine neuen Gruppen mehr erzeugt werden und die alten schwinden, so gilt dies als die Abwesenheit jedes Daseinsrestes. Insofern man aber daran erkennen kann, daß es da keinen Daseinsrest mehr gibt, so gilt das Nirwahn eben als 'frei von jedem Daseinsreste' (an-upādisesa). Da das Nirwahn aber nur erreicht werden kann vermittels der durch unbeugsame Kraft gewirkten außergewöhnlichen Erkenntnis und es auch so vom Allerkennend gelehrt wurde, darum ist das Nirwahn im höchsten Sinne (paramatthato) und seiner wahren Natur nach etwas Seiendes. Es heißt nämlich (Ud.VIII.3): "Es gibt, ihr Mönche, ein Ungeborenes, Ungewordenes, Ungestaltetes, Unerschaffenes."
Dies ist die Erklärung mit Hinsicht auf die Darstellung der Leidenserlöschung.