Sutta Nipata

I. BUCH DER SCHLANGE (Uraga Vagga) - [Pali]

I.1. Die Schlange (Uraga-Sutta)

1

Wer seinen Zorn [1], sobald er sich erhoben, bannt,
Wie durch Arznei ein weiterfressend Schlangengift,
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten [2] auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.[3]

2

Wer restlos [4] abgeschnitten hat die Lust [5],
Wie Blütenstengel man im Lotusteiche bricht,
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

3

Wer restlos das Begehren abschnitt,
Austrocknend diesen reißend-schnellen Strom,
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

4

Wer restlos seinen Dünkel hat zerstört,
Wie Wogenflut den schwachen Bambus-steg,
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

5

Wer in den Daseinsformen Wesenskern nicht findet,
Wie einer, der auf Feigenbäumen Blüten sucht,
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

6

In wessen Innerem Unmut keinen Raum hat,
Wer über Lebens Wechselfälle sich erhebt [6],
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.
 

7

Wer ausgebrannt die üblen Gedanken [7],
Sie innen restlos ausgerottet hat,
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.
 

8

Wer nicht zu weit ging, nicht zurückblieb [8],
Wer diese ganze Weltausbreitung überwand,
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.
 

9

Wer nicht zu weit ging, nicht zurückblieb,
Erkennend von der Welt: Unwirklich ist all dies [9]!
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.
 

10

Wer nicht zu weit ging, nicht zurückblieb,
Wer gierfrei weiß: Unwirklich ist all dies!
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

11

Wer nicht zu weit ging, nicht zurückblieb,
Wer lustfrei weiß: Unwirklich ist all dies!
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

12

Wer nicht zu weit ging, nicht zurückblieb,
Wer haßfrei weiß: Unwirklich ist all dies!
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

13

Wer nicht zu weit ging, nicht zurückblieb,
Wer wahnfrei weiß: Unwirklich ist all dies!
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

14

In dem sich auch verborgene Neigung (anusaya) nicht mehr findet,
In dem des Unheilsamen Wurzeln [10] sind getilgt,
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.
 

15

In dem es keine Ausgeburten der Beklemmung [11] gibt,
Bedingungen für Wiederkunft im Diesseits [12].
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

16

In dem es keine Ausgeburten der Verstrickung (vanathajā) gibt,
Die Ursach' sind für Bindung an das Dasein,
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlang alte, abgenutzte Haut.

17

Wer Hemmung fünffach [13] überwand und unverstört
Von Zweifel und von innerem Stachel frei [14],
Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf,
Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

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[1] Zorn (kodha) schwindet, laut K, restlos erst auf dem 'Pfade der Nichtwiederkehr' (anāgāmī-magga), nämlich mit der erst dann vollzogenen völligen Beseitigung der 'Haß-Fessel' (byāpāda-samyojana).


[2] Beide Seiten (ora-pāra)

Laut K erstreckt sich dieser Begriff auf

Hiermit wird gleich zu Beginn, und mit dem Nachdruck des feierlich wiederholten Kehrverses, eines der Grundmotive des Sutta-Nipāta angeschlagen, nämlich die Überwindung der Gegensätze.

Ora-pāra bedeutet ursprünglich 'das diesseitige und jenseitige (Ufer)' und in diesem Sinne wird es in den meisten deutschen und englischen Übersetzungen dieses Textes wiedergegeben.

Es hat jedoch auch die gleichfalls sehr häufigen Bedeutungen von 'unter - über', 'niedrig - hoch'.

In diesem letzteren Sinne, als das Niedere und Höhere, ist es gleichbedeutend mit zwei anderen Paarbegriffen, parovara und uccāvaca, die zum charakteristischen Wortschatz des Sutta-Nipāta gehören und im K meist in ganz ähnlicher Weise erläutert werden, wie oben ora-pāra.

Zu v. 1048 wird parovara geradezu mit parāni ca orāni ca erklärt.

Alle drei Paarbegriffe bezeichnen also im Sutta-Nipāta die gegensätzlichen oder verschiedenartigen Dinge (im Komm. zum Vimanavatthu wird uccāvaca ausdrücklich mit vividha = verschiedenartig, erklärt), entweder im Allgemeinen als die Welt der Vielheit und Gegensätze, wie in unserem Vers, oder auf Einzelfälle bezogen.

Eine Wiedergabe von ora-pāra mit 'Niederes und Höheres' wäre daher nicht nur möglich, sondern auch wortgetreu und wäre jedenfalls dem mißverständlichen 'Diesseits und Jenseits' vorzuziehen.

Beide Übersetzungen aber würden nicht den weiten Geltungsbereich der obigen kommentariellen Erklärung deutlich machen, der sich nicht nur auf das Hier und Dort, Hoch und Niedrig, Diesseits und Jenseits, sondern auch auf das Innen und Außen, Eigen und Fremd, Fern und Nahe etc. erstreckt.

Für das Verständnis der Gedankenwelt des Sutta-Nipāta ist es wichtig, daß alle diese Bedeutungen mitgedacht werden. Es wurde daher die dem Wortlaut nach freiere, aber sinngetreue Wiedergabe mit 'beide Seiten' vorgezogen, in der übrigens auch das ursprüngliche Bild von den 'beiden Ufern' mitklingt. -

Zum wörtlichen Vorkommen des Begriffes 'beide Seiten' (ubho anta) im Sutta-Nipāta siehe v. 778 mit Anm., v. 1042.


[3] Wie eine Schlange alte, abgenutzte Haut.

Das Gleichnis vom Häuten der Schlange wird im K in folgender Weise ausgeführt:

"Das Abstreifen der Haut erfolgt auf Grund von vier Umständen:

  1. auf Grund der eigenen Gattungs-Beschaffenheit (jāti, Abstammung, Geburt),
  2. aus Abscheu,
  3. durch Unterstützung,
  4. durch Anstrengung.

,Eigene Gattungs-Beschaffenheit' bedeutet: Abstammung von den Schlangen und lang gestreckter Körperbau.

In fünferlei Hinsicht sind die Schlangen an ihre Gattungsbeschaffenheit gebunden:

hinsichtlich

Wenn eine Schlange die alte Haut abstreift, so tut sie es eben auf Grund ihrer Gattungs-Zugehörigkeit.

Und weil das Abstreifen der Haut in ihrer Gattung begründet ist, tut sie es mit Abscheu (gegen die alte Haut).

Wenn sie nämlich eine Hälfte der alten Haut abgestreift hat, die andere Hälfte aber noch an ihr hängt, dann empfindet sie davor Ekel.

So Ekel empfindend stützt sie sich auf einen Ast, eine Wurzel oder einen Stein.

Mit solcher Unterstützung bietet sie alle Kraft und Anstrengung auf und, der Schwanz krümmend, den Atem ausstoßend, ihre Haube ausdehnend, wirft sie den Rest der Haut ab und geht, wohin sie will. -

Ebenso ist es mit jenem Mönch, der willens ist, die 'beiden Seiten' aufzugeben. Auch sein Aufgeben geschieht auf Grund von vier Umständen:

  1. auf Grund der eigenen Abstammung (jāti),
  2. aus Abscheu,
  3. mit Unterstützung,
  4. durch Anstrengung.

Die 'eigene Abstammung' des Mönchs ist nämlich die Sittlichkeit, die in den Worten gemeint ist 'in edler Abstammung geboren' (ariyāya jātiyā jāto; Majjh. 86).

Auf Grund dieser seiner 'eigenen Abstammung' faßt der Mönch - wie die Schlange gegen die alte, abgenutzte Haut - Abscheu gegen die in der eigenen und fremden Persönlichkeit usw. (s.o.) bestehenden leiderzeugenden 'beiden Seiten' (orapāra), indem er dabei nämlich das Elend (bei den verschiedenen Paargruppen) sieht.

Mit der Unterstützung edler Freundschaft erzeugt er in sich höchste Anstrengung, nämlich das Pfadglied 'Rechtes Streben': 'Tagsüber läutert er auf und ab gehend oder sitzend den Geist von hemmenden Dingen . . .' (Majjh. 107); im Sinne dieser Textstelle Tag und Nacht in sechs Zeitabschnitte teilend, kämpft und strebt er.

Wie die Schlange ihren Schwanz krümmt, so nimmt er den Kreuzsitz ein. Wie die Schlange ihren Atem ausstößt, so kämpft dieser Mönch in kraftvollem Mühen. Wie die Schlange ihre Haube weitet, so schafft er sich Erweiterung seiner Erkenntnis.

Wie die Schlange in der beschriebenen Art ihre alte Haut, so gibt der Mönch in solcher Weise 'beide Seiten' auf.

Wie die Schlange, der alten Haut entledigt, hingeht, wohin sie will, so entwandert dieser bürden-entledigte Mönch in die Richtung des von jedem Haftenrest freien Nibbāna-Bereichs."


[4] Restlos K: 'samt der Neigung (anusaya)' (sānusayam); d.h. samt dem feinsten und verborgensten Hang zur Lust. Entsprechend ist das Wort 'restlos' auch in den folgenden Versen zu verstehen.

[5] Lust (rāga) wird hier vom K als Sinnlichkeits-Lust (kāma-rāga) aufgefaßt, die auf der Stufe der Nichtwiederkehr schwindet, während das in der 3. Strophe erwähnte gesamte Begehren (tanhā) erst mit Erreichung der Heiligkeit überwunden wird.  


[6] Wer über Lebens Wechselfälle sich erhebt (itibhav-ābhavatañca vītivatto); wtl.: Wer das So-sein und Nicht(-so)-sein überschritten hat. D.h.: wer keinen Unmut über das So-sein von unangenehmen Erfahrungen und das Nichtvorhandensein von angenehmen Erfahrungen hat, sowie kein Ergötzen in den umgekehrten Fällen.

K erläutert mit folgenden Paargliedern: 'Glück-Unglück, Gewinn-Verlust, Dauer-Vernichtung, Guttat-Übeltat'. Auch hier das Grundmotiv der Überwindung der einander erzeugenden Gegensätze.

Itibhavābhava-kathā ist eines der im Kanon erwähnten unwürdigen Gesprächsthemen, wobei natürlich nur eine weltlich-oberflächliche Betrachtung der betreffenden Wechselfälle gemeint ist; siehe z.B. Majjh. 122.


[7] Gedanken (vitakka). Die Worte 'übler Art' sind eine durch den Sinn geforderte Ergänzung, denn hier sind offenbar nur unheilsame Gedanken gemeint, wie auch im Sutten-Titel Vitakka-santhāna-sutta ’Stillung der (üblen) Gedanken' (Majjh. 20).

K nennt die folgenden neun unheilsamen Gedanken:


[8] Wer nicht zu weit ging, nicht zurückblieb (yo nāccasārī na paccasārī)

K:

Wer diese Extreme vermeidend den Mittleren Pfad wandelt, von dem heißt es, daß er 'nicht zu weit geht und nicht zurückbleibt'."

Zum ersten dieser Begriffe (nāccasārī = na ati-asāri) ist heranzuziehen: atisāram-ditthi, "die (über das Begründete) hinausgehende Ansicht" (Sn v. 889 m. Anm.) und atisitvā (Sn v. 908 m. Anm.). Vgl. ferner Sn v. 939: "dann läuft man nicht, versinkt man nicht.


[9] "All dies": bezieht sich lt. K auf alles Bedingte oder Gestaltete (sankhata), das in den weltlichen Daseinsgruppen (khandha), Sinnengrundlagen (āyatana) und Elementen (dhātu) besteht, wie sie sich dem Klarblick (vipassanā) darbieten.


[10] Des Unheilsamen Wurzeln (mūlā akusalā).

Es sind dies die in vv, 10, 12, 13 genannten: Gier, Haß und Wahn;

und zwar sind sie sowohl selber etwas Unheilsames, als auch die Wurzeln (mūlā) für weiteres, aus ihnen erwachsendes Unheilsames (akusalā). -

Vgl. Dhammapada v. 338, wo die Begehrens-Neigung (tanhā-nusaya) mit der Wurzel eines Baumes verglichen wird.


[11] Ausgeburten der Beklemmung (darathajā).

Daratha ist Sorge, Angst, Beklemmung, Bedrückung; in der letzteren Bedeutung wird es auch auf körperliche Ermüdung angewandt.

Der Übers. glaubt nicht, daß man hier auf die ursprüngliche Sanskrit-Bedeutung 'Spalt(ung)' zurückzugehen hat, wie es K.E. Neumann tut.

K: "Die jeweils zuerst auftretenden Befleckungen heißen, wegen ihres Peinigens, daratha; die jeweils später entstehenden werden daratha-jā genannt, weil sie aus jenen ersteren 'geboren' sind."

Es handelt sich hier also wohl um einen bestimmten Aspekt der 'Neigungen' (anusaya), ebenso wie bei vanathajā im nächsten Vers.

Wir möchten vermuten, daß hier jene hanghaften Geistestrübungen gemeint sind, die mit einem Gefühl der Bedrückung und Beklemmung auftreten. Darunter würde z.B. fallen jene im Menschen zu tiefst verborgene Besorgnis und Unsicherheit, jene scheinbar grundlose Furcht, die sowohl als Lebensangst wie als Todesfurcht erscheinen kann und die meist, noch bevor sie bewußt wird, durch Aktivität übertönt zu werden pflegt.


[12] Zum Diesseits (oram). K erklärt hier ora als Persönlichkeitsgebilde (sakkāya) und zitiert als Beleg das kanonische Gleichnis: "Das diesseitige Ufer (orimam tīram), o Mönch ist eine Bezeichnung für die Persönlichkeit. (Samy.Nik. 35.197)


[13] Hemmung fünffach (nīvarane ... pañca), nämlich: Sinnenlust, Abneigung, Starrheit und Schlaffheit, Unruhe und Reue, Zweifelsucht.

[14] Stachellos. Als 'Stacheln' nennt K: Gier, Haß, Wahn, Dünkel und falsche Ansicht. Das häufig gebrauchte Bild des Stachels bringt die schmerzlich wühlende Unruhe zum Ausdruck. Siehe Sn 592-593, Sn 928-939.


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