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Auszug aus dem Magazin Focus 7/2004

Grübeln an den Grenzen des Ichs

Die neuen Erkenntnisse der Neurobiologie zwingen die Philosophen zur Inventur. Sie rütteln an den Grundfesten unseres Menschenbilds

 

Vielleicht wären wir weiter, hätte Rene Descartes beizeiten eine psychiatrische Klinik aufgesucht. "Ich denke, also bin ich", lautet der berühmteste Satz des Philosophen. Ein Blick in die Krankenakten hätte ihn womöglich zu einem anderen Satz veranlasst: "Ob ich hier eigentlich denke, weiß ich gar nicht so recht."

 

Die Krankheiten des Hirns nähren Zweifel an Theorien, die manche Philosophen noch heute für wahr halten: etwa die Annahme, ein Mensch könne sich nicht über den Inhalt seines Bewusstseins täuschen. Ein Irrtum, wie jeder Neurologe weiß, der schon mal einen Patienten mit "Antons Syndrom" behandelt hat. Bei den Betroffenen verursacht eine Hirnschädigung zweifelsfrei Blindheit. Dennoch sind sie überzeugt, sie könnten sehen. Ihnen geschieht, was Descartes für unmöglich hielt: Sie irren sich über die Existenz einer Sinneswahrnehmung.

 

An den Universitäten spricht sich herum, dass sich die Philosophie nicht allein mit der Hilfe von Bibliotheken betreiben lässt, Geisteswissenschaftler ahnen, dass sie die Daten aus den Neurolabors studieren sollten, wenn sie nicht ins Hintertreffen geraten wollen. Denn schon jetzt wagen sich die Hirnforscher mit neuer Unbefangenheit an Fragen, an denen sich die Philosophen seit 2500 Jahren abarbeiten. Gibt es einen freien Willen? Was ist Bewusstsein? Wer bin ich?

 

Gefährliche Experimente. So kommt es, dass derzeit die Feuilletons wieder einmal ein Experiment des US-Neurophysiologen Benjamin Libet diskutieren. Libet hatte Versuchspersonen gebeten, zu einem zufälligen Zeitpunkt, einen Finger zu krümmen, während er mit Elektroden deren Hirnströme beobachtete. Das sensationelle Resultat: Die motorischen Areale des Hirns hatten die Handlung bereits eine knappe halbe Sekunde bevor die Probanden sich zu ihr entschlossen eingeleitet.

 

Neurobiologen folgern, dass der freie Wille gar nicht existiere. Das Gehirn gaukele dem Selbst seine Freiheit nur vor. "Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden", fordert Wolf Singer, Direktor am Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Die Idee eines freien Willens sei eine Illusion, sobald man akzeptiere, dass alles Hirngeschehen auf Prozessen in den Neuronen basiere, Unter der Schädeldecke herrschten die gleichen Gesetze, die die Planeten kreisen und die Herzen schlagen lassen.

Demnach wäre es Unfug, einem Mörder seine Tat vorzuwerfen.

 

Freiheit, ist sie meine? Henrik Walter, Philosoph, Psychiater und Neurologe, Leitender Oberarzt der Psychiatrischen Uniklinik in Ulm, bezweifelt, dass das Experiment Willensfreiheit in philosophisch relevantem Sinn testet. Der Entschluss zum Fingerkrümmen sei ja mit Beginn des Experiments gefasst. "Die Motorprogramme des Hirns flackern so vor sich hin, so wie bei einem Golfspieler, der den Schläger fünfmal ansetzt und ausholt, bevor er den Ball fort schlägt.

 

Michael Pauen, Bewusstseinsphilosoph an der Uni Magdeburg, kritisiert, dass die Probanden nicht zwischen Alternativen wählen konnten. Gemeinsam mit dem Bio-Psychologen Christoph Heilmann baute er deshalb die Libet-Experimente nach - der Unterschied: Die Versuchspersonen sollten entscheiden, ob sie die linke oder die rechte Hand bewegten. Wieder meldete sich das motorische Bereitschaftspotenzial im EEG vor der Bewusstwerdung. Aber: Aus ihm war nicht abzulesen, welche Hand die Probanden zuerst bewegen wollten. Freiheit gerettet?

 

"Das löst das Problem nicht", gesteht Philosoph Pauen, der mit seinem Ausflug ins Labor auch demonstrieren will, dass man sich über die Begriffe klar werden sollte, bevor man sie leichtfertig zu Grabe trägt. So wie vor wenigen Jahren Hochleistungs-Schachcomputer die Debatte um das Wesen der Intelligenz angestachelt hätten, zwingen die Ergebnisse der Neurowissenschaften zur neuen Beschäftigung mit der Autonomie des Menschen.

 

"Wer meint, dass Determiniertheit Willensfreiheit ausschließt, macht die Annahme, dass Nichtdetermination - also Zufall - das Kriterium für Willensfreiheit sei", sagt Pauen und runzelt die Stirn: Wie sollte es Freiheit sein, wenn uns der Zufall das Heft des Handelns aus der Hand nimmt? Dagegen seien Vorbestimmtheit und Willensfreiheit besser vereinbar, als viele dächten. "Oder finden Sie sich durch Ihr Gehirn bevormundet, wenn Ihre Moralvorstellungen Sie dazu bewegen, die Zahnpasta zu bezahlen, statt sie zu klauen?"

 

Solche Überlegungen zeigen, dass Philosophen mit gutem Grund alltagspsychologische Weisheiten unter die Lupe nehmen. "Die Neurowissenschaften werfen neue philosophische Fragen auf, sie beseitigen sie nicht", resümiert Pauen und rechtfertigt das Unterfangen seines Ulmer Kollegen Henrik Walter, der abzustecken versucht, was denn bleibt vom freien Willen, wenn man Naturwissenschaft philosophisch ernst nimmt.

 

Auch Walter verabschiedet die Annahme, ein Mensch könne allein mit der Kraft seiner Vernunft bei identischen Umständen unterschiedliche Entscheidungen frei fällen. Doch ihm bleibe eine "natürliche Autonomie", die Platz lasse für verantwortliches Handeln. Dabei könnten sich Menschen in ihrer Freiheitsfähigkeit unterscheiden. "Wir wissen mittlerweile, dass etwa die Gewalttätigkeit antisozialer Persönlichkeiten einen biologischen Hintergrund hat. Natürlich sollte das auch unsere Vorstellung von Schuldfähigkeit und den Sinn von Strafen beeinflussen", erläutert Walter. Aber es gehe nicht um Entweder-oder, sondern um Abstufungen. Die Neurobiologie führe zu einer sachlicheren Einstellung gegenüber den Menschen. "Das absolut Böse oder absolut Gute gibt es nicht mehr", sagt Walter und lächelt: "Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie mal jemanden ermorden, ist ja auch nicht gleich null."

 

Abschied vom Ich. Wen bereits solche Einsichten irritieren, der sollte sich einen Besuch bei Thomas Metzinger ersparen. Der 45-jährige Lehrstuhlinhaber für Theoretische Philosophie an der Universität Mainz ist ein freundlicher Mensch, doch er vertritt eine Theorie von eisiger Klarheit: "Ich habe mir überlegt, was eigentlich wäre, wenn es gar keinen festen Ich-Kern in uns gäbe, sondern nur ein Bild, mit dem wir uns verwechseln. Wir wären so etwas wie Patienten mit Antons Syndrom - blind gegenüber unserem nicht existenten Selbst. Wir wären der festen, aber genau genommen falschen Überzeugung, wir wären jemand." Konsequent heißt sein jetzt in den USA veröffentlichtes Hauptwerk "Being No One". Auf 600 Seiten verficht er tatsächlich die These, wir seien niemand.

 

 

Es ist beste Neurophilosophie insofern, als Metzinger seine Argumentation in der Praxis startet. Er fragt nach den philosophischen Implikationen der seltsamen Störungen, die sich auf den Stationen der Neurologen und Psychiater finden: Menschen mit Phantomschmerzen und solche, die sich Körperteile amputieren lassen wollen, weil sie überzeugt sind, ein Arm oder Bein gehöre nicht mehr zu ihnen. Schizophrene, die der Herkunft ihrer Gedanken misstrauen. Neglect-Patienten, die eine Seite ihres Körpers nicht mehr als Teil ihres Selbst erleben und in Folge eine Hälfte der Welt ignorieren. Was bedeutet es, wenn manche Prosopagnosie-Patienten ihr eigenes Spiegelbild nicht identifizieren können? Oder wenn Patienten mit Capgras-Syndrom die Ansicht vertreten, etwa ihr Ehepartner sei durch einen Doppelgänger ersetzt worden? Bizarr das Cotard-Syndrom: Diese Patienten sind im Gegensatz zu Descartes felsenfest davon überzeugt, dass sie nicht existieren.

Metzinger interpretiert anders: Derartige Störungen zeugten von der Konstruiertheit unseres Ich-Modells. Es bestehe aus vielen geistigen Prozessen, die einzeln ausfallen könnten.

Angeknipst und ausgeknipst. "Schauen Sie", ruft Metzinger und rüttelt an einem Schreibtischstuhl. "Alles, was Sie hier sehen, das bewusste Erleben des Stuhls, des Tisches sind nur Erregungsmuster auf der Sehrinde ihres Hirns. Das Hirn baut dieses Bild allerdings so schnell auf, so zuverlässig und gut, dass wir das Gefühl haben, wir seien in direktem Kontakt mit seinem Inhalt." Philosophen nennen diese Sicht transparent, weil wir im Normalfall durch das Modell hindurchblicken, ohne es als solches zu erkennen.

Der Mainzer Philosoph wendet diese Idee auch auf das Zentrum unseres inneren Erlebens an. "Wir sind ein System, das ein Körpermodell errechnet und ein Modell unseres emotionalen Zustands: Das ist das Ich-Gefühl." Einen echten Kern gebe es nicht. So erkläre sich, dass manche Menschen von realistischen Out-of-Body-Erlebnissen etwa beim Aufwachen aus der Narkose berichten. Es sind Momente, wo die äußeren Reize so schwach sind, dass sich das Modell selbstständig macht. Normalerweise würde das System in solchen Situationen - etwa im traumlosen Tiefschlaf - das Ich einfach ausknipsen. Beim Aufwachen wird es wieder angeknipst.

 

Das Ich also nur eine Illusion? "Schon das wäre zu viel, denn nur ein Jemand kann eine Illusion haben. Wir sind aber gewissermaßen niemand,"

Die These widerspricht derart jeder Intuition, dass Metzinger sie gern mit einem Experiment des US-Neuropsychologen Vilaynur Ramachandran illustriert. Der Forscher versuchte, dem Patienten Philip, der unter der Empfindung litt, sein Phantomglied sei gelähmt, eine Bewegungsillusion zu verschaffen. Ramachandran bat ihn, den linken Armstumpf und den rechten Arm in eine offene Kiste zu stecken, die in der Mitte von einem Spiegel geteilt wurde. Er sollte dann das Spiegelbild seiner intakten Hand betrachten und versuchen, beide Arme zu bewegen.

Das Ergebnis war dramatisch, berichtet Ramachandran. Als Philip in den Spiegel blickte, rief er: „Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Das ist unglaublich. Das haut mich um." Wie ein Kind hüpfte er auf und ab, "Mein linker Amt funktioniert wieder." Metzinger kommentiert: "Was sich in diesem Experiment bewegt, nenne ich das phänomenale Selbstmodell des Menschen. Es ist eine Simulation im Hirn. Was Sie jetzt gerade als Ihren nicht amputierten Arm erleben, ist auch nur diese Simulation."

 

Das Ende der Seele. Metzingers Theorie lässt jeden frösteln, der über sie nachdenkt, nicht zuletzt ihren Urheber. "Mein Modell hat metaphysische Konsequenzen: Es bindet alles Erleben an das Gehirn, der Begriff der unsterblichen Seele spielt für die Wissenschaft keine Rolle mehr, " Metzinger unterbricht kurz, trinkt Tee und seufzt: "Glauben Sie bloß nicht, dass ich selbst das immer gut finde."

So kommt es, dass der Philosoph in seinen blauen Stunden nachdenklich wird. "Da könnte etwas kommen, was uns wehtut. Viele Menschen wollen an Gott und Seele glauben. Die Wissenschaftler werden belohnt, wenn sie alles kaputtmachen. Aber wir müssen uns auch fragen: Wer räumt eigentlich hinterher auf?"

CHRISTIAN WEBER