223
Hiermit beginnen die zum Gebiet des Wissens (Kap. 58) gehörenden fünf höheren Reinheitsstufen. Die erste Reinheitsstufe wurde bereits in Kap. 71, die zweite in Kap. 76 behandelt.
Über die dritte Reinheitsstufe, die Reinheit der Erkenntnis (ditthi-visuddhi), heißt es in Vis. XVIII: „Als Reinheit der Erkenntnis gilt das der Wahrheit gemäße Erkennen des Geistigen und Körperlichen . . .
Jenes auf dem Boden der Unverblendung ruhende wahrheitsgemäße Erkennen, das auf mancherlei Weise das Geistige und Körperliche feststellt und den Glauben an eine Persönlichkeit überwunden hat, das hat man als die Reinheit der Erkenntnis aufzufassen."
- Gleichwie bei Anhäufung von Teilen
- Man da von einem ,Wagen’ spricht,
- Braucht man, sobald die Gruppen da sind,
- Den populären Namen ,Mensch’.
- Nur Leiden ist es, was entsteht
- Und was besteht und was vergeht,
- Nichts außer Leiden kann entsteh’n,
- Nichts außer Leiden löst sich auf.
Gleichwie, ihr Brüder, durch Holz, Stricke, Lehm und Stroh bedingt der eingeschlossene Raum als ,Haus’ bezeichnet wird, genau so, ihr Brüder, wird der durch Knochen, Sehnen, Fleisch und Blut bedingte eingeschlossene Raum als ,Körper’ bezeichnet.
224
Jt. 49
Durch zwei Ansichten gefesselt, ihr Mönche, klammern unter Himmelswesen und Menschen die einen sich an, die anderen gehen übers Ziel hinaus, und nur diejenigen, die Augen haben, erkennen die Dinge.
Wie aber, ihr Mönche, klammern die einen sich an? Am Dasein erfreut, ihr Mönche, sind Himmelswesen und Menschen, über das Dasein entzückt, durch das Dasein beglückt. Legt man diesen nun die Lehre zur Daseinserlösung dar, so drängt ihr Geist nicht dahin, erfreut sich nicht daran, festigt sich nicht darin, neigt nicht dazu. So, ihr Mönche, klammern die einen sich an.
Wie aber, ihr Mönche, gehen die anderen übers Ziel hinaus? Einige, die des Daseins überdrüssig sind, davor Abscheu und Ekel empfinden, diese preisen das Nichtdasein, insofern da eben dieses Ich nach der Auflösung des Körpers zerstört und vernichtet werde, nicht mehr nach dem Tode bestehe. Dies sei der Friede, dies das Erhabene, dies das Wahre. So, ihr Mönche, gehen die anderen übers Ziel hinaus.
Wie aber, ihr Mönche, erkennen nur diejenigen, die Augen haben? Da, ihr Mönche, erkennt der Mönch das Gewordene (die fünf Daseinsgruppen) als geworden, und hat er das Gewordene als geworden erkannt, so strebt er nach Abwendung davon, nach Aufhebung und Erlöschung. So, ihr Mönche, erkennen nur diejenigen, die Augen haben.
225
Was meinst du, Rāhula: Ist das Sehorgan vergänglich oder unvergänglich?
Vergänglich, o Ehrwürdiger.
Was aber vergänglich ist, ist das leidvoll oder freudvoll?
Leidvoll, o Ehrwürdiger.
Von dem aber, was da vergänglich ist, leidvoll und dem Wechsel unterworfen, kann man da wohl mit Recht annehmen: ,Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst’?
Nein, o Ehrwürdiger.
Was meinst du, Rāhula: Sind Sehobjekte . . . Sehbewußtsein . . . Seheindruck . . . und das, was da durch Seheindruck bedingt an Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewußtsein entsteht, vergänglich oder unvergänglich?
Vergänglich, o Ehrwürdiger.
Was aber vergänglich ist, ist das leidvoll oder freudvoll?
Leidvoll, o Ehrwürdiger.
Von dem aber, was da vergänglich ist, leidvoll und dem Wechsel unterworfen, kann man da wohl mit Recht annehmen: ,Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst’?
Nein, o Ehrwürdiger.
Was meinst du, Rāhula: Sind Hör-, Riech-, Schmeckorgan, Körper . . . Geist . . . Geistobjekte . . . Geistbewußtsein . . . Geisteindruck . . . und das, was da durch Geisteindruck bedingt an Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewußtsein entsteht, vergänglich oder unvergänglich?
Vergänglich, o Ehrwürdiger.
Was aber vergänglich ist, ist das leidvoll oder freudvoll?
Leidvoll, o Ehrwürdiger.
Von dem aber, was da vergänglich ist, leidvoll und dem Wechsel unterworfen, kann man da wohl mit Recht annehmen: ,Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst’?
Nein, o Ehrwürdiger.
So erkennend, Rāhula, wendet sich der edle Jünger ab von Seh-, Hör-, Riech-, Schmeckorgan, Körper, Geist . . . von Geistobjekten . . . Geistbewußtsein . . . Geisteindruck . . . und von dem, was da durch Geisteindruck bedingt an Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewußtsein entsteht. Sich davon abwendend löst er sich los. Durch Loslösung aber wird er erlöst; und im Erlösten entsteht das Wissen: ,Erlöst bin ich’, und er erkennt: ,Erloschen ist die Wiedergeburt, erfüllt der heilige Wandel, die Aufgabe vollbracht, und nicht gibt es Weiteres mehr zu tun für diese Welt.’
226
Nicht dünke man sich identisch mit dem Auge oder im Auge enthalten oder unabhängig vom Auge bestehend oder Besitzer des Auges. Nicht dünke man sich identisch mit dem Sehobjekt . . . Sehbewußtsein . . . Seheindruck . . . dem durch Seheindruck bedingt entstandenen wohligen oder wehen oder indifferenten Gefühl oder darin enthalten oder unabhängig davon bestehend oder Besitzer davon.
Nicht dünke man sich identisch mit dem Hörorgan . . . Riechorgan . . . Schmeckorgan . . . Körper . . . Geist . . . Geistobjekt . . . Geistbewußtsein . . . Geisteindruck . . . dem durch Geisteindruck bedingt entstandenen wohligen oder wehen oder indifferenten Gefühl oder darin enthalten oder unabhängig davon bestehend oder Besitzer davon.
Nicht dünke man sich mit allem identisch oder darin enthalten oder unabhängig davon bestehend oder Besitzer davon . . .
Soweit es da, ihr Mönche, Daseinsgruppen, Elemente und Grundlagen (s. Kap. 173-189) gibt, so dünke man sich nicht damit identisch oder darin enthalten oder unabhängig davon bestehend oder Besitzer davon.
Frei von solchem Dünken aber haftet man an nichts mehr in der Welt. An nichts mehr haftend erreicht man in sich selber die Erlöschung, und man weiß: ,Versiegt ist die Wiedergeburt, ausgelebt der heilige Wandel, die Aufgabe erfüllt, und nichts gibt es mehr zu tun für diese Welt.’
Analog zur obigen Übersetzung hat man den Anfang von M. 1 zu verstehen. NEUMANN, SÍLÁCARA und CHALMERS (engl.) haben übersehen, daß es sich hier um Persönlichkeitsansichten handelt. Die alten Meister sagen:
227
- In Wirklichkeit gibt’s nur den Körper und den Geist,
- Und nicht zeigt sich dabei ein Wesen oder Mensch,
- Denn leer ist dies, wie eine Puppe konstruiert,
- Ein Haufen Elend und vergleichbar Holz und Stroh.
,Leer (suñña) ist die Welt! Leer ist die Welt!’ So sagt man, o Ehrwürdiger. Inwiefern aber, o Ehrwürdiger, wird die Welt als leer bezeichnet?
Weil sie, Ananda, leer ist an einem Ich und an etwas zu einem Ich Gehörendem, darum wird die Welt als leer bezeichnet.
Leer, Ananda, an einem Ich und an etwas zu einem Ich Gehörendem sind Auge, Form, Sehbewußtsein . . . Auch die Gefühle, die dadurch bedingt aufsteigen, wie wohliges, wehes und indifferentes Gefühl, auch diese sind leer an einem Ich und einem zu einem Ich Gehörendem. Weil also, Ananda, alles leer ist an einem Ich und einem zu einem Ich Gehörendem, darum, Ananda, bezeichnet man die Welt als leer.
228
Wer, ihr Mönche, der Wirklichkeit gemäß Auge, Form und Sehbewußtsein versteht sowie den Seheindruck und das dadurch bedingte freudvolle, leidvolle und indifferente Gefühl, der faßt kein Begehren mehr zu Auge oder Form oder Sehbewußtsein oder Seheindruck oder zu dem dadurch bedingt entstandenen Gefühl . . . Wer nämlich dabei ohne Gier ist, das Elend merkend, in dem gelangen die fünf Anhaftungsgruppen zur Abschichtung, und das Wiedergeburt-erzeugende, von Lust und Gier begleitete, sich hier und da erfreuende Begehren schwindet in ihm. Auch das seelische und geistige Bedrücktsein und Fiebern schwindet, und er empfindet ein seelisches und geistiges Glück.
Was in einem Menschen aber in solchem Zustande an Erkenntnis besteht, das gilt als seine rechte Erkenntnis. Was in ihm an Gesinnung besteht, das gilt als seine rechte Gesinnung. Was in ihm an Anstrengung besteht, das gilt als seine rechte Anstrengung. Was in ihm an Achtsamkeit besteht, das gilt als seine rechte Achtsamkeit. Was in ihm an Sammlung besteht, das gilt als seine rechte Sammlung. Schon vorher aber waren seine Worte, Werke und sein Lebensunterhalt rein. Auf diese Weise erreicht in ihm der edle achtfache Pfad die Vollkommenheit der Entfaltung.
229
Als Reinheit der Zweifelentrinnung (kankhā-vitarana-visuddhi) gilt diejenige Erkenntnis, welche zustande kommt durch Erfassung der Entstehungsbedingungen eben dieses Geistigen und Körperlichen (nāma-rúpa) und die allen sechzehn Zweifeln hinsichtlich der drei Zeiten (,War ich wohl in der Vergangenheit? . . . Werde ich wohl in der Zukunft sein? . . . Bin ich gegenwärtig? Oder bin ich nicht?. . .’) entgangen ist. Das Erkennen des Gesetzes der bedingten Entstehung sowie von Karma und Wiedergeburt ist also hier auch eingeschlossen.
„Wer die Dinge als vergänglich (anicca) betrachtet, der versteht und erkennt die Daseinsbedingung (nimitta) der Wirklichkeit gemäß. Darum spricht man von rechtem Erkennen. Sind also auf diese Weise alle Gebilde als vergänglich wohl erkannt, so schwindet ihm hierbei der Zweifel.
Wer die Dinge als elend (dukkha) betrachtet, der versteht und erkennt den Daseinsfortgang (pavatta) der Wirklichkeit gemäß. Darum spricht man von rechtem Erkennen. Sind also auf diese Weise alle Gebilde als elend wohl erkannt, so schwindet ihm hierbei der Zweifel.
Wer die Dinge als Nicht-Ich (anattā) betrachtet, der versteht und erkennt die Daseinsbedingung und den Daseinsfortgang der Wirklichkeit gemäß. Darum spricht man von rechtem Erkennen. Sind also in dieser Weise alle Gebilde als Nicht-Ich wohl erkannt, so schwindet ihm hier bei der Zweifel.
Was hierbei die der Wirklichkeit gemäße Erkenntnis betrifft, das rechte Erkennen und die Zweifelentrinnung, so haben diese Begriffe ein und dieselbe Bedeutung, und nur dem Wortlaut nach sind sie verschieden."
230
So habe ich gehört. Einst weilte der Erhabene im Jetahaine bei Sāvatthi, im Kloster des Anāthapindika. Bei jener Gelegenheit nun saß der ehrwürdige Revata, der Zweifler, unweit vom Erhabenen, mit untergeschlagenen Beinen, den Körper gerade aufgerichtet, indem er über seine eigene Reinheit der Zweifelentrinnung nachsann. Es sah nun der Erhabene, wie der ehrwürdige Revata so dasaß und nachsann über seine eigene Reinheit der Zweifelentrinnung. Diese Tatsache aber bemerkend tat der Erhabene bei dieser Gelegenheit den feierlichen Ausspruch:
- Was da an Zweifeln auch bestehen mag,
- Sei’s über diese oder auch die nächste Welt,
- Sei’s über eigenes Erleben oder fremdes:
- All diese überwinden die Vertieften,
- Die Eifrigen, dem heil’gen Wandel folgend.
231
Während der unwissende Weltling über die nicht zu erwägenden Dinge nachdenkt und über die zu erwägenden Dinge nicht nachdenkt, kommen die zuvor noch nicht aufgestiegenen üblen Triebe zum Aufsteigen, und die bereits aufgestiegenen üblen Triebe wachsen an. Und unweise erwägt er:
,War ich wohl in den vergangenen Zeiten? Aus welchem Zustande trat ich in welchen Zustand in den vergangenen Zeiten?
Werde ich wohl in den zukünftigen Zeiten sein? Oder werde ich nicht in den zukünftigen Zeiten sein? Was werde ich wohl in den zukünftigen Zeiten sein? Wie werde ich wohl in den zukünftigen Zeiten sein? Aus welchem Zustand werde ich in welchen Zustand treten in den zukünftigen Zeiten?’
Und auch hinsichtlich der jetzigen, gegenwärtigen Zeit ist er von Zweifeln erfüllt: ,Bin ich wohl? Oder bin ich nicht? Was bin ich? Wie bin ich? Woher ist wohl dieses Wesen gekommen? Wohin wird es gehen?’
Während er solcherart unweise erwägt, steigt ihm als wahr und wirklich die Ansicht auf: ,Ich habe ein Ich’ oder ,Ich habe kein Ich’ oder: ,Mit dem Ich erkenne ich, was nicht Ich ist’ oder ,Mit dem Nicht-Ich erkenne ich das Ich’; oder aber er hat die folgende Ansicht: ,Was dieses mein Ich betrifft, das mitteilungsfähige und fühlende, das hier und dort die Früchte der guten und bösen Taten erfährt, so ist dieses mein Ich unvergänglich, beständig, ewig, keinem Wechsel unterworfen und wird für alle Zeiten so bleiben.’ Das, ihr Mönche, nennt man eine Fährte der Ansichten, ein Dickicht der Ansichten, eine Wildnis der Ansichten, eine Komödie der Ansichten, ein Taumel der Ansichten, eine Fessel der Ansichten. In der Fessel der Ansichten aber verstrickt, ihr Mönche, wird der unwissende Weltling nicht befreit von Wiedergeburt, Altern und Sterben, von Sorge, Klage, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung; wird er nicht befreit vom Leiden, das sage ich . . .
Während aber, ihr Mönche, der wissende edle Jünger . . . über die nicht zu erwägenden Dinge nicht nachdenkt und über die zu erwägenden Dinge nachdenkt, steigen die noch nicht aufgestiegenen üblen Triebe nicht auf, und die aufgestiegenen üblen Triebe schwinden. ,Dies ist das Leiden, so erwägt er weise. ,Dies ist die Entstehung des Leidens, so erwägt er weise. Dies ist die Erlöschung des Leidens’ so erwägt er weise. ,Dies ist der zur Leidenserlöschung führende Pfad, so erwägt er weise. So aber erwägend, schwinden ihm die drei Fesseln: Persönlichkeitsglaube, Zweifel und Haftten an Sittenregeln und Riten (sakkāya-ditthi, vicikicchā, sílabatta-parāmāsa). Diese üblen Triebe, ihr Mönche, sagt man, sind durch Erkennen zu überwinden.
232
In allen Daseinsformen sieht der dem Zweifel entronnene Mönch überall nur das durch Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen im Gange gehaltene Geistige und Körperliche (nāma-rúpa), Und keinen Täter sieht er neben der Tat, keinen die Karmawirkung Erfahrenden neben der Karmawirkung. Klar hat er erkannt, daß sich die Weisen nur einer bloßen konventionellen (vohāra) Ausdrucksweise bedienen, wenn sie von einem ,Täter’ oder einem die Wirkung der Tat ,Erfahrenden’ sprechen. Wie eben die alten Meister gesagt haben:
- Nicht findet man der Taten Täter,
- Kein Wesen, das die Wirkung trifft;
- Nur leere Dinge zieh’n vorüber:
- Wer so erkennt, hat rechten Blick.
- Da gibt es weder Gott noch Brahma,
- Der dieses Daseinsrad erschuf:
- Nur leere Dinge zieh’n vorüber,
- Durch viele Ursachen bedingt."
Pts. II, 62