Leer ist die Welt

RELIGION ODER PHILOSOPHIE?

 

Im zweiten Bande der "Welt als Wille und Vorstellung", im Kapitel über das metaphysische Bedürfnis des Menschen, sagt Schopenhauer über die Religionen:

 

"Religionen können, als auf die Fassungskraft der großen Menge berechnet, nur eine mittelbare, nicht eine unmittelbare Wahrheit haben: diese von ihnen verlangen, ist, wie wenn man die im Buchdruckerrahmen aufgesetzten Lettern lesen wollte, statt ihres Abdrucks. Der Werth einer Religion wird demnach abhängen von dem größern oder geringern Gehalt an Wahrheit, den sie, unter dem Schleier der Allegorie, in sich trägt, sodann von der größern oder geringern Deutlichkeit, mit welcher derselbe durch diesen Schleier sichtbar wird, also von der Durchsichtigkeit des letztern."

 

Und nun kommt Schopenhauer auf den Buddhismus zu sprechen, indem er fortfährt:

 

"Fast scheint es, daß, wie die ältesten Sprachen die vollkommensten sind, so auch die ältesten Religionen. Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhismus den Vorzug vor den anderen zugestehen. Jeden Falls muß es mich freuen, meine Lehre in so großer Übereinstimmung mit einer Religion zu sehen, welche die Majorität auf Erden für sich hat; da sie viel mehr Bekenner zählt, als irgend eine andere."

 

Schopenhauer betont dann, daß diese Übereinstimmung ihm um so erfreulicher sei, als er bei seinem Philosophieren nicht unter dem Einfluß des Buddhismus gestanden, diesen vielmehr gar nicht gekannt habe. Und weiter berichtet er, was ihm bei Abfassung des zweiten Bandes an Abhandlungen über den Buddhismus vorlag. Das war sehr wenig und konnte nur sehr wenig sein; denn das erste grundlegende Werk über den Buddhismus, die "Introduction a l'histoire du Bouddhisme indien" von Eugene Burnouf, erschien in demselben Jahre 1844, in dem der zweite Band der "Welt als Wille und Vorstellung" die Presse verließ. Alles, was vorher über den Buddhismus veröffentlicht worden war und was Schopenhauer gelesen hatte, waren unbedeutende Bruchstücke aus einem Überlieferungskreise, der der ursprünglichen Buddhalehre so fern steht wie etwa das Vatikanische Konzil der Bergpredigt. Wenn Schopenhauer gewußt hätte, was Buddha wirklich gelehrt hat, so würde er entweder das ganze Kapitel über das metaphysische Bedürfnis des Menschen anders angelegt oder den Buddhismus nicht zu den Religionen, sondern zur Philosophie gerechnet haben. Seine Unterscheidung zwischen Philosophie und Religion, daß jene die Verpflichtung habe, in allem, was sie sagt, sensu stricto et proprio wahr zu sein, diese aber nur sensu allegorico, weil die Wahrheit vor dem Volke nicht nackt erscheinen könne, wird nämlich durch den Buddhismus umgestoßen und widerlegt. Das ist gerade das Eigenartige der Buddhalehre, daß sie die Wahrheit ohne alle Allegorie, nackt und rein, vor das Volk bringt, ebenso nackt, wie Schopenhauer oder irgendein anderer Philosoph seine Philosophie vor die Auserwählten, und viel weniger verhüllt, als beispielsweise der große Philosoph Platon die seinige im Phaidon. Der Buddhismus ist zwar im Laufe der Jahrhunderte reichlich mit Allegorien durchsetzt und teilweise sogar von ihnen überwuchert worden; und dieser, der Fassungskraft weniger scharf denkender Völker angepaßte, allegorisierte Buddhismus war es eben, von dem Schopenhauer einige Proben gekostet hatte. Wenn wir aber heute vom Buddhismus reden, so denken wir dabei an die ursprüngliche Lehre Buddhas, wie sie uns im Pali-Kanon überliefert ist. Man ist sich heute darüber einig, daß in dieser Fassung in allem Wesentlichen mindestens die sinngetreue Wiedergabe der Reden und Aussprüche Buddhas vorliegt, in den wichtigsten Stellen sogar der genaue Wortlaut.

Es fragt sich nun, ob wir diesen Urbuddhismus als Religion betrachten dürfen. Nach Schopenhauers Begriffsbestimmung müssen wir ihn zweifellos eine Philosophie nennen; denn er verschmäht die allegorische Darstellungsweise und will sensu stricto et proprio wahr sein. In der Tat fehlt es nicht an Stimmen, die den Buddhismus als Wissenschaft würdigen, so namentlich Deussen, der ihn in seiner "Allgemeinen Geschichte der Philosophie" zur Philosophie rechnet, und Georg Grimm in seinem Werk "Die Wissenschaft des Buddhismus", und ich sehe keinen Grund, dem zu widersprechen. Das kann uns aber nicht hindern, den Buddhismus, auch in seiner ursprünglichen Gestalt, ebenfalls zu den Religionen zu zählen. Er ist zweifellos für ungezählte Millionen länger als zwei Jahrtausende Religion gewesen und ist es für viele Millionen noch heute, und wenn sich das mit unserer bisherigen Begriffsbestimmung der Religion nicht verträgt, so muß eben die Begriffsbestimmung geändert werden. An der Tatsache ist nichts zu ändern.

Was den Buddhismus als Religion von anderen Religionen unterscheidet, hat Buddha selbst am Ende seiner Erdenlaufbahn klar und bestimmt ausgesprochen. Im Mahāparinibbānasutta, dem großen Bericht von den letzten Tagen Buddhas, wird erzählt, wie Buddha ganz kurz vor seinem Hinscheiden noch einen andersgläubigen Geistlichen, einen Wanderasketen namens Subhadda, der von ihm belehrt zu werden wünschte, empfing. Subhadda fragte Buddha, was er von den Lehren der anderen berühmten Sektenstifter halte, deren es damals im Gangeslande mehrere gab, und Buddha antwortete (dem Sinne nach): "Diese Frage wollen wir auf sich beruhen lassen, aber ich will dir sagen, worauf es bei meiner Lehre vor allem ankommt: das ist der edle achtfache Weg." Den setzte er ihm auseinander, und Subhadda wurde dadurch bekehrt und bat um Aufnahme in den buddhistischen Orden. So wurde er der letzte Jünger, den Buddha selbst bekehrt hatte.

Mit dem edlen achtfachen Weg hatte Buddha seine Lehrtätigkeit auch eröffnet. Die erste Rede, die er hielt, nachdem er zur Wissensklarheit, zum Erwachen, gelangt war, die Rede von Benares, beginnt mit dem edlen achtfachen Weg. Er ist in der Tat das Kernstück der Buddhalehre. Bei allen Wandlungen, die der Buddhismus im Laufe der Jahrhunderte und in den verschiedenen Ländern erlitten hat, ist der edle achtfache Weg unverändert geblieben, und überall in der Welt, wo sich Menschen zu Buddha bekennen, da bekennen sie sich zum edlen achtfachen Weg, so verschieden auch sonst ihre Anschauungen sein mögen.

Die acht Glieder des Weges sind diese: rechte Einsicht, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Tun, rechte Lebensführung, rechter Kampf, rechte Andacht und rechte Sammlung. In dieser kurzen, in den Lehrtexten sehr oft wiederkehrenden Formel vom achtfachen Weg steckt die ganze Buddhalehre.

Rechte Einsicht heißt die vier edlen Wahrheiten erkennen, nämlich die Wahrheit vom Übel, die Wahrheit vom Ursprung des Übels, die Wahrheit vom Ende des Übels und die Wahrheit von dem zum Ende des Übels führenden Pfad.

Schon hier, am Anfang, tritt uns eine Eigentümlichkeit des Buddhismus entgegen, die ihn von allen anderen Religionen unterscheidet: sein Ausgangspunkt, sein Fundament ist nicht ein Glauben, sondern ein Erkennen, ein Wissen. Buddha sagte einmal (M 38) zu seinen Jüngern, nachdem er ihnen einen schwierigen Teil der Lehre dargelegt hatte: "Würdet ihr sagen: wir hegen Ehrfurcht vor dem Meister, und aus Ehrfurcht vor dem Meister reden wir so?" Sie antworteten: "Herr, das würden wir nicht!"

"Oder würdet ihr sagen: ein Samana spricht so und viele Samanen, wir sind es nicht allein, die so reden?" -"Herr, das würden wir nicht!"

"Oder würdet ihr euch nur zu dem bekennen, was ihr selbst erkannt, selbst geschaut, selbst erfahren habt?"-"Ja, Herr, das würden wir tun."

So wird aller Autoritätsglaube, aller Offenbarungsglaube grundsätzlich verworfen. Wer Buddha folgt, soll nicht glauben, sondern erkennen. Seine Religion gründet sich nicht auf Spekulation, sondern auf Erfahrung.

Was soll der Buddhist erkennen? Zunächst die edle Wahrheit vom Übel, wobei zu beachten ist, daß das indische Wort, das wir mit "Übel" übersetzen, einen weiten Begriff vertritt; es umfaßt das Unzulängliche, Unbefriedigende, Unvollkommene. Der Inhalt dieser Wahrheit ist dieselbe Erkenntnis, die der Philosophie Schopenhauers zugrunde liegt, und sie zeigt auch in ihrem Aufbau eine wunderbare Übereinstimmung mit den Feststellungen Schopenhauers. Sie lautet:

  1. Geburt, Altern, Krankheit und Tod sind übel; Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind übel;
  2. mit Unliebem verbunden sein, von Liebem getrennt sein, ist übel;
  3. nicht erlangen, was man wünscht, ist übel;

zusammenfassend die fünf Gruppen des Ergreifens (khandha) sind übel.

 

Das heißt mit anderen Worten: soweit Zeit, Raum und Kausalität reichen, ist alles unzulänglich, unbefriedigend, unvollkommen. Geburt, Altern, Krankheit, Tod veranschaulichen die Zeit; mit Unliebem verbunden sein, von Liebem getrennt sein, veranschaulicht den Raum als Faktor des Übels; nicht erlangen, was man wünscht, veranschaulicht die - unsern Willen hemmende und daher Leiden schaffende - Kausalität. Die Zusammenfassung am Schluß, die fünf Gruppen des Ergreifens, ist ein formelhafter Ausdruck. Nach Erläuterungen, die an anderen Textstellen gegeben werden, können wir das Ergreifen gleichsetzen mit der Bejahung des Willens zum Leben. Die fünf Gruppen sind die Konstituenten des Individuums, nämlich die körperliche Gestalt, die Empfindung, die Wahrnehmung, die unbewußt verlaufenden Lebensprozesse und das Bewußtsein. Die fünf Gruppen des Ergreifens sind also das aus den fünf Gruppen zusammen gesetzte individuelle, vom Lebenswillen getragene Dasein. Daß dieses notwendig leidvoll oder unbefriedigend ist, soll der Buddhist nicht glauben, sondern erkennen. Der Beweis wird geführt in einem vielfach überlieferten Dialog zwischen Buddha und seinen Jüngern (z.B. M 109, S 22.82):

"Was meint ihr wohl, ist die Gestalt ewig oder unbeständig?" - "Herr, unbeständig!" - "Was aber unbeständig ist, ist das beglückend oder unbefriedigend?" - "Es ist unbefriedigend."

Und nun geht Buddha gleich einen Schritt weiter, zerreißt mit gewaltigem Griff den Nebel, der die letzte Wahrheit verhüllt, und zeigt seinen Jüngern den strahlenden Gipfel der Erkenntnis:

"Was aber unbeständig, unbefriedigend und veränderlich ist, kann man davon sagen: dies gehört mir, dies bin ich, dies ist mein Ich?" - "Nein, Herr, gewiß nicht!"

Buddha führt dann den gleichen Beweis für die anderen vier Gruppen und fährt fort: "Darum müßt ihr alles, was es an Gruppen gibt, der Wahrheit gemäß in rechter Weisheit so betrachten: dies gehört mir nicht, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Ich."

Das ist, in Buddhas eigenen Worten, die einfache und klare Lehre vom Nicht-Ich, die Anatta-Lehre, die so viel, auch unter den Buddhisten im Morgen- und Abendlande, mißverstanden wird, die man aber richtig verstehen muß, wenn man Buddha überhaupt verstehen will. Buddha bringt seinen Jüngern durch Fragen zum Bewußtsein, daß alles in der Welt und ganz besonders die eigene Persönlichkeit, Körper und Seele, vergänglich, unbeständig ist. Nun kommt es darauf an, daß wir uns nicht mit dem blassen Begriff "Unbeständigkeit" begnügen, sondern wir müssen uns einmal recht anschaulich vorstellen, wie unser Leib und wie alles Seelische und Geistige an uns von der Zeugung an über die Geburt und die Kindheit hinweg bis zur Gegenwart sich entfaltet hat, wie es sich täglich und stündlich, ja mit jedem Atemzuge ändert und wie es dereinst, wir wissen nicht wie bald, zerfallen wird, so daß nichts übrig bleibt als ein häßlicher, stinkender Leichnam ohne Empfindung, ohne Wahrnehmung, ohne unbewußte Lebensprozesse und ohne Bewußtsein, und wie dann die ganze Welt mit ihren geistigen und leiblichen Genüssen für uns dahin ist. Wenn wir bei dieser Vorstellung einen Augenblick verweilen und uns fragen, ob das, was so unbeständig ist, von uns als beglückend oder als unbefriedigend empfunden wird, so kann die Antwort nicht zweifelhaft sein. Darin aber, daß wir das Unbeständige als unbefriedigend empfinden, drückt sich aus, daß das Unbeständige nicht unserem Ich angemessen ist, nicht zu ihm gehört. Denn wenn das Unbeständige unserem Ich entspräche, so würde uns das Hinschwinden des Unbeständigen kein Leid zufügen, nicht als unbefriedigend erscheinen.

Mit dieser Schlußfolgerung rücken wir die gesamte Welt der Erscheinung, die Welt als Vorstellung, einschließlich unseres eigenen leiblich-seelischen Organismus, unserer Individualität oder Persönlichkeit, von unserem Ich ab, wir vollziehen im Geiste den Trennungsstrich zwischen Nicht-Ich und Ich; denselben Trennungsstrich, den auch Schopenhauer zog, nur an einer anderen Stelle als er, und darin liegt der Hauptunterschied zwischen Schopenhauers Philosophie und dem Buddhismus: bei Schopenhauer liegt auf der Seite des Ich der Wille. Der Wille ist ihm sogar identisch mit dem Ich; unser Wesen ist nach Schopenhauer Wille. Buddha aber verweist den Willen, den wir ja entstehen, sich wandeln und vergehen sehen, gleich allem, was entsteht und vergeht, auf die Seite des Nicht-Ich.

Über das Ich enthält sich Buddha jeder Äußerung. Alles, was wir mit unserem vergänglichen Erkenntnisvermögen erkennen können, ist vergänglich, unbeständig, also unbefriedigend, also nicht unser Ich. Für das von den Schlacken der Vergänglichkeit befreite Ich hat Buddha einen besonderen Ausdruck; er nennt es: den Vollendeten nach dem Tode. Auf die wiederholte Frage seiner Jünger und Andersgläubigen ob ein Vollendeter nach dem Tode sei oder nicht sei, d.h. lebe oder nicht lebe, hat Buddha beharrlich die Antwort verweigert, und zwar mit der ausdrücklichen Begründung, daß das Grübeln über diese Frage nicht zweckdienlich sei, nicht einen vollkommenen Wandel in Heiligkeit begründe, nicht zur höheren Weisheit, nicht zum Erwachen, nicht zum Nirwana führe. Buddha hat aber niemals behauptet, wie manche glauben, daß es ein Ich überhaupt nicht gebe. Im Gegenteil, er hat sich gegen dieses Mißverständnis, das schon bei seinen Lebzeiten auftauchte, energisch verwahrt, indem er sagte (M 22): 

"Ich behaupte, daß ein Vollendeter in der Erscheinungswelt nicht aufzufinden ist, und weil ich dies behaupte, beschuldigen mich manche fälschlich und zu unrecht, ich wolle mit allem aufräumen, ich lehrte die Vernichtung, das Verschwinden, das Vergehen des wahren Wesens."

Die zweite edle Wahrheit handelt vom Ursprung des Übels. Sie lautet: Es ist der Lebensdrang, der Wiedergeburt erzeugt, von Wohlgefallen und Lust begleitet ist und der hier und dort sich ergötzt, nämlich der Drang nach sinnlicher Lust, der Drang nach Leben und der Drang nach Selbstabtötung. Hier befindet sich Buddha in voller Übereinstimmung mit Schopenhauer. Der Drang ist genau dasselbe, was Schopenhauer den Willen zum Leben nennt, den auch er als die Ursache des Leidens erkannt hat. Auch die Beweisführung ist im Buddhismus dieselbe wie bei Schopenhauer. Während aber nach Schopenhauer der Wille unser Wesen ist, erklärt Buddha, daß der Drang der Kausalität unterliegt, also diesseitig, immanent, also nicht unser Ich ist, das ja transzendent ist. Der Drang ist nach der Buddha-Lehre die Wirkung einer Ursache, er ist bedingt entstanden, und wenn man die Kette der Bedingungen, die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse, rückwärts verfolgt, so gelangt man zu einem Gliede, bei dem man die Kette sprengen kann. Das ist die Unwissenheit, das heißt die Unkenntnis der vier edlen Wahrheiten. Wenn nämlich Wissen da ist, mit anderen Worten: wenn ich erkannt habe, daß alles in der Erscheinungswelt unbeständig, darum unbefriedigend ist, darum nicht zu meinem Ich gehört, und daß mein Ich mit der Erscheinungswelt nichts zu tun hat, dann kann es keinen Drang nach dieser Erscheinungswelt geben.

Der Drang äußert sich in dreifacher Form: als Begierde, als Haß und als Verblendung. Begierde ist Verlangen nach lebendigen oder leblosen Objekten, von denen wir Befriedigung unseres Willens oder Lust erhoffen; Haß ist die Abneigung gegen lebendige oder leblose Objekte, von denen wir Durchkreuzung unseres Willens oder Unlust befürchten; Verblendung ist der Irrglaube, daß unser lebendiger Organismus unser wahres Wesen sei, jener Irrglaube, der die Wurzel alles Egoismus ist.

Daß der Lebensdrang Wiedergeburt erzeugt, ist eine Anschauung, die auch Schopenhauer geläufig ist. Ohne Lebensdrang kann kein lebendes Wesen entstehen. Wo ein lebendes Wesen entsteht, muß Lebensdrang vorhanden gewesen sein und gewirkt haben, und ein Wesen. das von diesem Drang nicht freigeworden ist, drängt notwendigerweise, wenn sein Leib zerfallen ist, zu neuem Leben, muß sich in der Erscheinungswelt irgendwie wieder verkörpern.

Wird aber der Drang völlig aufgegeben, vernichtet, vertrieben - dies ist die dritte edle Wahrheit - so ist damit das Übel beendet, und der Pfad, der zum Ende des Übels führt - die vierte edle Wahrheit - ist eben der edle achtfache Weg, in dessen Betrachtung wir nun weiterschreiten zum zweiten Glied.

Rechte Gesinnung ist der Entschluß, der Welt zu entsagen, kein Übelwollen zu hegen und kein Leid zu verursachen. Dies bildet mit dem dritten, vierten und fünften Glied, rechtem Reden, rechtem Tun und rechter Lebensführung, die Moral des Buddhismus.

Rechtes Reden heißt: nicht lügen, keine üble Nachrede führen, keine groben Worte gebrauchen, nicht unnütz plappern oder schwatzen. Rechtes Tun heißt: kein Leben zerstören, nichts nehmen, was einem nicht gegeben ward, kein unkeusches Leben führen. Dies alles wird noch einmal zusammengefaßt und ergänzt im fünften Glied: rechte Lebensführung, worunter verstanden wird, daß man sich von Unaufrichtigkeit, Verrat, Verdächtigung, Aushorchen, Wucher usw. freihält. Hierzu gehört auch noch das Meiden von Berauschtheit durch geistige Getränke oder Rauschgifte. Hierüber heißt es im Sutta-Nipata II, 14: "Der Laie, der die Lehre befolgt, soll sich nicht berauschenden Getränken ergeben. Er fordere keinen andern zum Trinken auf und spende dem Trinkenden keinen Beifall, denn er weiß, daß Trunksucht zum Wahnsinn führt. Durch Trunksucht verfallen die Toren dem Bösen und verleiten auch andere zur Unmäßigkeit. Er fliehe diesen Bereich der Übel, diesen Wahnsinn, diese Verblendung, an der nur Toren ihre Freude haben."

Die Moral des Buddhismus, die in vielen schönen Lehrreden näher ausgeführt ist, unterscheidet sich ebenso wie die Weltanschauung des Buddhismus von der anderer Religionen dadurch, daß sie sich nicht auf die Offenbarung einer göttlichen Autorität stützt, nicht von Gläubigen kritiklos hingenommen werden soll, sondern von selbst denkenden Menschen als richtig erkannt werden will. Der Buddhist handelt gut nicht aus Liebe zu Gott oder aus Furcht vor Gott, auch nicht aus Gehorsam gegenüber Buddha, sondern weil er selbst einsieht, daß er durch moralisches Handeln selbst besser wird, sich mehr und mehr daran gewöhnt, Begierde, Haß und Verblendung abzulegen, und daß er sich dadurch selbst von dem Leiden des Daseins erlöst.

Wenn Buddha von Lohn und Vergeltung für gute und böse Taten redet, so denkt er dabei nie an einen Gott, der da richtet die Lebendigen und die Toten, der nach Gutdünken begnadigen oder zu ewiger Höllenpein verurteilen kann, vielmehr redet er stets von der im Kausalitätsgesetz liegenden immanenten Gerechtigkeit, derzufolge eine gute Tat den Täter selbst hebt, in ihm die Bande des Egoismus lockert, während eine böse Tat den Täter selbst niederdrückt, in ihm den egoistischen Lebensdrang verstärkt und ihn dadurch irgendwann in einem künftigen Dasein in ungünstige, peinvolle Zustände bringt. Buddha sagt (Dhp 127):

 

 

Und an anderer Stelle (S 3. 4):

 

 

Man hat gegen die Moral des Buddhismus eingewandt, daß sie sich auf den Egoismus gründe, indem sie dem Guten Vorteile und dem Bösen Nachteile in Aussicht stelle. Nicht um den Buddhismus zu verteidigen oder für ihn zu werben, sondern nur um ein möglichst richtiges Bild von ihm zu geben, muß ich diesem Einwand widersprechen. Wenn Buddha die Belohnung für gute und die Bestrafung für böse Taten lehrt, so lassen sich dafür zwei Gründe anführen: erstens, daß es sich aus seiner Weltanschauung mit Notwendigkeit ergibt, daß es also nach seiner Überzeugung der Wirklichkeit entspricht, und zweitens, daß nach seiner Lehre die Übung der Moral zeitlich der religiösen Hebung und Läuterung des Menschen vorangehen muß. Die Grundlage der buddhistischen Moral ist die rechte Einsicht, der richtige Gebrauch der Vernunft. Die rechte Einsicht allein befähigt und nötigt zugleich den Menschen, sittlich zu handeln. (Diesen Grundsatz vertrat auch Kant in der Vorrede zu seinem Werk "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" 1793).

(Kant sagt in der Vorrede zur "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft": "Die Moral, sofern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflichten zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. . . Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst keineswegs der Religion, sondern, vermöge der reinen praktischen Vernunft. ist sie sich selbst genug . . Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor, denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserem Rechthandeln herauskomme. . . So ist es zwar nur eine Idee von einem Objekte, welches die formale Bedingung aller Zwecke zusammen vereinigt in sich enthält, das ist, die Idee eines höchsten Gutes in der Welt, . . . aber diese Idee geht aus der Moral hervor und ist nicht die Grundlage derselben.")

Die Moral steht in der Mitte des achtgliedrigen Weges. Es wäre also unlogisch und praktisch undurchführbar, die Moral auf der Forderung der Selbstlosigkeit, der Vernichtung des Egoismus, aufzubauen, da ja diese erst als Frucht der Moral und der religiösen Übungen erreicht werden kann. Der Mensch, für den die Moralanweisungen gelten, der sich noch in der Moral üben soll, steckt noch tief im Egoismus, und es ist durchaus angemessen, daß er die Triebfedern zum moralischen Handeln dem Egoismus entnimmt. Je mehr er sich aber in dem zunächst egoistisch gedachten Streben, sein eigenes künftiges Los zu bessern, der Moral befleißigt, um so mehr streift er den Egoismus Stück für Stück ab und wird dadurch reif zum Fortschreiten auf dem achtfachen Wege. Die hier besprochenen Moralanweisungen sind also gewissermaßen die "Moral für Anfänger" und die Moral für die Menge. Etwas ganz anderes ist das moralische Ideal des Buddhismus. Das ist die Moral des Heiligen, die ihren Platz erst am Ende des achtfachen Weges hat.

Wer sich in der allgemeinen Moral gefestigt hat, der gelangt nun zum eigentlich religiösen Teil des Buddhismus, der die drei letzten Glieder des Weges umfaßt. Das sind religiöse Exerzitien, die darauf abzielen, die Selbstbeherrschung auf das äußerste zu steigern und die bisher nur verstandesmäßig aufgenommene Buddha-Lehre zur anschaulichen Erkenntnis zu bringen und sie dadurch unverlierbar und in allen Lebenslagen gegenwärtig zu machen.

Der Buddhist soll nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Gemüt vollständig beherrschen, nicht nur alles, was sich im Bereich seines Bewußtseins abspielt, sondern auch, und das ist das Wichtigste und Entscheidende, den ganzen Bereich unterhalb der Bewußtseinsschwelle, die unbewußt vor sich gehenden, vegetativen Funktionen seines Körpers und ebenso die unbewußt wirkenden Triebe. Nur wer seinen physisch-psychischen Organismus bis in die letzten Winkel hinein in seiner Gewalt hat, der kann von sich sagen, er habe Begierde, Haß und Verblendung gänzlich überwunden, er habe den Lebensdurst vernichtet, habe getan, was zu tun war, und die Gewißheit erlangt, daß er zu dieser Welt nicht mehr zurückkehren werde.

Auch bei diesen religiösen Übungen ist der Anfang schwer, ist er ein Kampf, der "vierfache rechte Kampf", das sechste Glied des Weges. Das ist der Kampf zur Vermeidung, der Kampf zur Überwindung, der Kampf zur Erweckung und der Kampf zur Erhaltung.

Wenn der Buddhist mit einem Sinnesorgan ein Objekt wahrnimmt oder mit dem Denkorgan eine Vorstellung aufnimmt, so achtet er darauf, daß er in keiner Weise an dem Objekt oder an der Vorstellung haftet, d.h. zu dem Objekt oder zu der Vorstellung innerlich in irgendeine Beziehung tritt, sei es Zuneigung oder Abneigung. So wacht er ständig über seine Sinneswahrnehmungen und seine Gedanken. Das ist der Kampf zur Vermeidung.

Beobachtet er, daß trotzdem Gedanken der Begierde, des Übelwollens oder der Grausamkeit oder sonst schlechte, unheilsame Gedanken in ihm aufgestiegen sind, so läßt er sie nicht Fuß fassen, sondern überwindet sie und bringt sie zum Schwinden. Das ist der Kampf zur Überwindung. Es ist hierbei zu beachten, daß die unheilsamen Gedanken und Vorstellungen nicht etwa unterdrückt werden dürfen, sondern überwunden und ausgetilgt werden müssen. Würden sie nur unterdrückt, zurückgedrängt, so würde das entstehen, was die Freudsche Schule "verdrängte Komplexe" nennt, die sehr unheilvolle Wirkungen haben können. Überwinden und austilgen soll man die schlechten Gedanken und Vorstellungen vielmehr dadurch, daß man sie analysiert und sich ihre Häßlichkeit und Schädlichkeit vollständig klar macht. Die dabei zu befolgende Methode ist im Grunde dieselbe wie die der Psychoanalyse, nur mit dem Unterschied, daß sie jeder an sich selbst vornimmt, ohne Hilfe eines Psychiaters.

Der dritte Kampf, der Kampf zur Erweckung, besteht darin, daß sich der Buddhist bemüht, günstige Gemütszustände in sich zu erwecken, die Buddha "die sieben Vorstufen zum Erwachen" nennt: Besonnenheit oder Achtsamkeit, Ergründung der Lehre, Tatkraft, Begeisterung, Ruhe, Sammlung und Gleichmut, die alle darauf gerichtet sind, Begierdelosigkeit und damit das Ende des Leidens zu erreichen.

Sind aber günstige, auf Sammlung abzielende Vorstellungen in ihm aufgestiegen, so kämpft er darum, diese Vorstellungen zu erhalten. Das ist der Kampf zur Erhaltung.

Wer in diesem vierfachen Kampf Sieger geblieben ist, mag zum siebenten Glied des Weges vorschreiten, zur rechten Andacht. Diese besteht in einem System von Meditationen, das mit dem besonnenen und aufmerksamen Ein- und Ausatmen beginnt. Die Atemübung dient dazu, den Geist zu sammeln und zur Ruhe zu bringen, um ihn für die weitere Meditation geeignet zu machen.

Nun rückt der Buddhist alle Tätigkeiten, die gewöhnlich unbewußt vor sich gehen und ganz zur Gewohnheit geworden sind, in das Licht des vollen Bewußtseins, alle Bewegungen, die sich ergeben beim Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, beim Hin- und Herblicken, beim Essen und Trinken, beim Entleeren der Verdauungsorgane, beim Einschlafen und Aufwachen. Er erobert so gewissermaßen für das Bewußtsein ein Gebiet zurück, das uns durch die Gewohnheit allmählich verlorengegangen ist. So erweitert er den Bereich seines Bewußtseins immer mehr und lernt allmählich körperliche und psychische Funktionen beherrschen, die für den gewöhnlichen Menschen unbewußt verlaufen und dem Willen entrückt sind.

Diese vollkommene Selbstbeherrschung ist aber nur ein Mittel zu einem höheren Zweck, zur Veranschaulichung der Erkenntnis des Nicht-Ich des Anattā. Je mehr der Buddhist seinen Körper und alle seine Organe und alle psychischen Vorgänge in seinem Innern zum Objekt seiner Betrachtung und seiner Beherrschung macht, um so mehr tritt ihm dies alles und damit seine ganze Persönlichkeit als Objekt, also als etwas nicht zu seinem Ich Gehöriges, gegenüber.

Eine weitere Gruppe von Meditationen dient dazu, die Anschaulichkeit dieser Erkenntnis noch mehr zu verstärken. Zu diesem Zweck zerlegt der Buddhist im Geist seinen Körper in dessen anatomische Bestandteile, indem er sich sagt: In diesem Körper sind vorhanden Haupthaare, Körperhaare, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen, Mark, Nieren, Herz, Leber, Rippenfell, Milz, Lunge, Eingeweide, Weichteile, Magen, Kot, Galle, Schleim, Eiter, Blut, Schweiß, Fett, Tränen, Hautschmiere, Speichel Rotz, Gelenköl und Urin, wobei auf der Gefühlsseite das Unschöne, Unappetitliche, Unreine aller dieser Teile betont wird, um auch gefühlsmäßig einen möglichst weiten Abstand von dem eigenen Körper zu gewinnen.

Dann folgt eine Betrachtung des Körpers nach dessen chemischer Zusammensetzung, wenn man so sagen darf. Im Text heißt es: "In diesem Körper sind vorhanden das Erdelement, das Wasserelement, das Feuerelement, das Luftelement" oder, etwas freier übersetzt: "Festes, Flüssiges, Feuriges und Flüchtiges." Man könnte statt der vier Elemente der altindischen Naturerklärung auch die Elemente der modernen Chemie der Betrachtung zugrunde legen, und das Ergebnis wäre dann das gleiche: alle Elemente und physikalischen Erscheinungen, die im menschlichen Körper vorkommen, sind dieselben, die wir in der Außenwelt antreffen. Für die Meditation eignen sich aber die altindischen Elemente besser, weil sie unmittelbar auf den Empfindungen beruhen und deshalb anschaulich sind, während die Begriffe der Chemie und Physik abstrakt sind und nur gedacht, nicht anschaulich vorgestellt werden können.

Endlich vergegenwärtigt man sich einen Leichnam in den verschiedenen Stadien der Verwesung und setzt seinen eigenen Körper diesem gleich.

Auf die Körperbetrachtung folgt eine psychologische Zergliederung der Gefühle und der Gedanken, und zuletzt werden die Gegenstände der Buddha-Lehre einzeln betrachtet und bis in ihre letzten Konsequenzen durchdacht.

Eine andere wichtige Meditation ist die der unermeßlichen Güte, des Mitleids, der Mitfreude und des Gleichmuts. Mit klarem Bewußtsein und besonnen, so heißt es oft in den Texten, durchdringt ein edler Jünger mit gütiger Gesinnung die ganze Welt, und zwar zuerst in einer Himmelsrichtung, dann in der zweiten, der dritten und vierten, dann nach oben und unten und ringsumher durchdringt sie nach allen Seiten vollständig mit gütiger, umfassender, großer, unermeßlicher, friedfertiger, freundlicher Gesinnung. Ebenso durchdringt er die ganze Welt mit Mitleid, mit Mitfreude und mit Gleichmut. Der Sinn dieser Meditation ist, daß die Schranken des Individuums durchbrochen werden, daß die Scheidewand zwischen Ich und Du fällt und der Geist sich weitet durch innige Einfühlung in alles, was Leben hat. Man nennt dies auch das vierfache Verweilen im Göttlichen.

 

Alles das gehört zur rechten Andacht, welche die Vorbedingung ist für die rechte Sammlung. Bevor mit dieser begonnen wird, muß man sich zunächst vergewissern, daß die fünf Hemmnisse aus dem Innern getilgt sind, nämlich: weltliches Begehren, Übelwollen, Schadenfreude, Trägheit und Schlaffheit, ruheloses Grübeln, Zweifelsucht. Wer noch über irgend einen Punkt der Buddha-Lehre im Ungewissen ist, wer noch nicht zu voller Klarheit gelangt ist, der würde vergeblich versuchen, zu rechter Sammlung zu kommen. Sind aber alle Bedingungen für sie erfüllt, so kann der Jünger Buddhas zu geistigen Zuständen von immer wachsender Reinheit und Glückseligkeit gelangen, bis schließlich im letzten und höchsten Grade der Sammlung alle Denktätigkeit aufhört und der Geist höchste Klarheit erreicht.

Aber nicht dies ist das Ziel der Buddha-Lehre, sondern die endgültige Lösung vom Übel - im Gegensatz zur zeitweiligen, die beim höchsten Grade der Sammlung erreicht wird - der ewige Friede, das Nirvana. Die höheren Grade der Sammlung sind überhaupt keine wesentlichen Bestandteile des Buddhawegs. Es ist nicht notwendig, sie zu durchlaufen, um das Nirvana zu erlangen; es genügt hierfür, die ersten sieben Glieder des Weges zurückgelegt zu haben. Die Sammlung im Sinne des achten Gliedes ist eine von Buddha warm empfohlene, heilsame Übung, die aber, wie Buddha selbst bestätigt hat, nicht von jedem ausgeführt werden kann; es bedarf dazu besonderer Veranlagung und günstiger äußerer Umstände. Andererseits ist die Sammlung ohne gründliche Erfüllung der übrigen sieben Glieder des Weges im Sinne Buddhas vollkommen wertlos, ja unter Umständen sogar schädlich.

Nirvana - wir gebrauchen das Sanskritwort, weil es sich bei uns eingebürgert hat; im Pali lautet es: Nibbāna - Nirvana bedeutet den Zustand des Heiligen, des Erlösten. Schon in den alten Texten wird dabei ein Unterschied gemacht, je nachdem, ob der Heilige noch lebt oder gestorben ist. Das Nirvana bei Lebzeiten wird erklärt (S.38.1) als der Zustand, in dem man sich befindet, wenn Begierde, Haß und Verblendung verschwunden sind. Dieser Zustand kann nach der Lehre Buddhas in diesem Leben erreicht werden. Wer ihn erreicht, ist ein Heiliger, und von ihm heißt es (Itivuttaka 44): 

"Seine fünf Sinne bleiben in Kraft, und solange sie unversehrt sind, nimmt er mit ihnen wahr, was angenehm und was nicht angenehm ist, und empfindet Glück und Leid. Daß bei ihm Begierde, Haß und Verblendung aufgehört haben, das nennt man den Nirvanazustand mit einem Erdenrest." Ist aber der Heilige gestorben, so befindet er sich im "erdenrestfreien Nirvanazustand", bei dem er keine Empfindungen mehr hat und aus dem er nicht wieder zur Welt zurückkehrt.

Nirvana als der Zustand völliger Freiheit von Begierde, Haß und dem Wahn, daß unsere Persönlichkeit unser Ich sei, ist dasselbe wie unbedingte Selbstlosigkeit. Wer aber absolut selbstlos geworden ist, der ist vom Übel oder - was dasselbe ist - vom Kreislauf der Wiedergeburten erlöst. Wenn sein Leib zerfallen ist, baut er keinen neuen wieder auf, denn der Drang, der zu neuem Leben führt, ist in ihm erloschen. Infolge dessen ziehen auch seine Handlungen, die nicht anders als gut sein können, keine Vergeltung, keinen Lohn mehr nach sich. Der erlöste Heilige handelt gut, nicht mehr aus Hoffnung auf Belohnung oder aus Furcht vor üblen Folgen böser Handlungen, sondern weil er von jeder Regung der Selbstsucht frei ist. Das ist zugleich das religiöse und moralische Ideal der Buddha-Lehre, des ursprünglichen Buddhismus.

 

Überblicken wir rückschauend noch einmal den achtfachen Weg, der das Wesen der ganzen Buddha-Lehre in sich begreift, so vermissen wir dabei eines, was wir sonst in jeder Religion finden: den Gottesglauben. Die Erlösung ist nicht das Werk eines göttlichen Erlösers, sondern der Mensch, jeder einzelne, hat die Möglichkeit, sich selbst zu erlösen. Auch Buddha kann dabei nicht helfen. Er zeigt nur den Weg. Gehen muß ihn jeder selbst. Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, daß Buddha die Götter leugnete. Nur einen Weltschöpfer und Weltregierer kann er nicht anerkennen. Ein erster Anfang ist, so lehrt Buddha, nicht zu erkennen, und das periodische Entstehen und Vergehen dieser Welt vollzieht sich nach ehernen und unabänderlichen Gesetzen ohne das Eingreifen eines Gottes; ebenso wie die moralische Weltordnung unabänderlich feststeht und für göttliche Gnade oder Ungnade keinen Raum läßt. Den Glauben an den höchsten Gott Brahma, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, wie ihn die Brahmanen zu Buddhas Zeiten verehrten, behandelt Buddha mit feiner, aber vernichtender Ironie. Dagegen hegt er keinen Zweifel an dem Dasein höherer, übermenschlicher Wesen, die er nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit und seines Landes Devas, Götter, oder Devatas, Geister, nannte. Aber diese Devas sind vergängliche, wenn auch langlebige, Wesen, und ihre Macht ist begrenzt. Unvergleichlich höher als sie steht der Heilige, der den achtfachen Weg zurückgelegt, Begierde, Haß und Verblendung überwunden und damit das Nirvana erreicht hat.

Da der allmächtige Gott fehlt, fehlt im Buddhismus auch das Gebet. Für den Buddhisten gibt es kein Wesen, zu dem er beten könnte. Der Buddhist ist kein Beter, sondern ein Kämpfer. Seine Meditation ist Kampf, Kampf gegen alle bösen Regungen, Kampf zur Eroberung des Guten, ein Kampf, bei dem jeder auf sich allein angewiesen ist, methodische Arbeit an der eigenen Vervollkommnung, planmäßige Übung in der Zügelung des Geistes und der Beherrschung aller Triebe und das Ringen nach anschaulicher Erkenntnis. Der Buddhist wünscht nicht die Vereinigung mit Gott, nicht das ewige Leben, sondern das Aufhören alles Lebens, denn Leben ist nicht denkbar ohne Veränderung, nicht ohne Werden und vergehen und deshalb nicht ohne Leiden. Der Buddhist will nichts anderes als den ewigen Frieden, die ewige selige Ruhe das Nirvana.

Obwohl der Buddhismus keine göttliche Offenbarung kennt, ist er doch nicht etwa eine Diesseits-Religion im Sinne des Materialismus, sondern er weist sehr deutlich und bestimmt auf das Jenseits hin, aber er enthält sich mit äußerster Strenge jeglicher positiven Aussage über das Jenseits. Er geht nie über die Grenze der menschlichen Erkenntnis hinaus und meidet alle Spekulation, aber er führt mit aller Klarheit bis unmittelbar an die Grenzen der Erkenntnis hin, so daß er, auf dem Boden der Erfahrung stehend, die Notwendigkeit eines Transzendenten nachweist. Deshalb braucht er nicht Gläubige mit Versprechungen abzuspeisen, sondern er gewährt dem Denkenden die Gewißheit, daß eine Erlösung vom Leiden des Daseins möglich ist, und dem, der sich davon überzeugt hat, weist er auch den Weg.

Die sichere Fundierung auf Erfahrung und Vernunft gibt dem Buddhismus auch die Kraft zur äußersten Toleranz. Von Buddha selbst werden Handlungen berichtet, die das Höchste an Achtung vor der Überzeugung anderer und an Entgegenkommen anderen Religionsgemeinschaften gegenüber darstellen, und es ist eine geschichtliche Tatsache, daß nie ein Tropfen Blut zu Ehren Buddhas oder zur Verbreitung seiner Lehre vergossen worden ist.

Da der Buddhismus sich an das Denken und nicht an den Glauben wendet, kann er auf religiöse Gebräuche und Symbole verzichten. In der Tat hat er in seiner ursprünglichen Gestalt alle Zeremonien verworfen und den Glauben an die Wirksamkeit religiöser Gebräuche oder Sakramente sogar als eine derjenigen Fesseln bezeichnet, die zerbrochen sein müssen, bevor der Pfad zur Heiligkeit überhaupt betreten werden kann. Der Buddhismus kennt keine Sakramente. Die einzigen feststehenden Gebräuche. die sich von alters her im Buddhismus finden, beziehen sich nicht auf die Religion, sondern sind lediglich Vorschriften für die Aufnahme in den Mönchsorden, der allerdings ein wesentlicher Bestandteil des Buddhismus ist.

Buddha hatte von vornherein die zu seiner Zeit in Indien herrschende Anschauung als selbstverständlich übernommen, daß, wer in der Häuslichkeit lebt und im Erwerbsleben steht, nicht leicht den höchsten, ganz reinen, vollkommenen Wandel der Heiligkeit führen könne (M 36). Er hat demgemäß unmittelbar nach seinem Erwachen, nachdem er die ersten Jünger gewonnen hatte, eine Gemeinde von Weltentsagenden, einen Mönchsorden, gegründet, dem später ein Nonnenorden an die Seite gestellt wurde. Dieser doppelte Orden, für den Buddha nach und nach eine Reihe von Satzungen aufstellte, hat den Zweck, die Buddha-Lehre zu pflegen und zu verbreiten und seinen Mitgliedern ein dem Weltgetriebe entrücktes, dem Streben nach Heiligkeit gewidmetes Leben zu ermöglichen.

Buddha hat seinem Orden aber keinerlei Askese im Sinne von Selbstquälerei vorgeschrieben, sondern im Gegenteil von Anfang an erklärt, daß der Drang zu Selbstquälerei oder Selbstabtötung ebenso zu verwerfen und zu bekämpfen sei wie der Drang zu Sinnenlust.

Man braucht aber nicht Mönch oder Nonne zu sein, um das Ziel des Buddhaweges erreichen zu können. Auch Laien können grundsätzlich zum Nirvana gelangen, aber es ist für sie viel schwerer als für Ordensmitglieder, und in der Regel werden Laienanhänger Buddhas erst in einem späteren Dasein die Erlösung verwirklichen können; denn vollständige Selbstlosigkeit läßt sich eben mit dem Erwerbsleben kaum vereinigen.

 

So ist der Buddhismus eine Religion, die sich von den abendländischen Religionen und vom Islam in allem, was man gewöhnlich für das Wesen der Religion hält, unterscheidet. Er ist eine Religion ohne Glauben an einen persönlichen, die Welt regierenden Gott, ohne göttliche Offenbarung, ohne Gebet, ohne Allegorien, ohne religiöse Gebräuche, Sakramente und Symbole. Der Buddhismus beweist durch seine Existenz, daß alle diese Dinge nicht zum Wesen der Religion gehören: Wenn wir nicht, wie der Osten tut, auf eine Unterscheidung zwischen Religion und Philosophie verzichten wollen, sondern mit Schopenhauer Religion und Philosophie als zwei verschiedene Arten, das metaphysische Bedürfnis des Menschen zu befriedigen, gelten lassen, so kann man unter Berücksichtigung des Buddhismus die Grenze nur so ziehen: die Philosophie wendet sich allein an den Intellekt, ihr Zweck ist die Befriedigung des Wissensdurstes; die Religion ergreift den ganzen Menschen, sein Denken, Fühlen und Wollen. Die Religion beantwortet nicht nur die Fragen nach den letzten Dingen, sondern gibt dem Menschen Halt im Leben, bildet sein Gemüt durch Anleitung zur Meditation und zur Sammlung, gewährt ihm Trost im Leiden und erhebt ihn zum Ewigen.

 


LEER IST DIE WELT

 

Buddhistische Erkenntnislehre

 

So sprach der Erhabene:

(Sn 1119)

 

Auch so sprach der Erhabene: "In diesem sechs Fuß hohen Leib mit seinem Wahrnehmen und Bewußtsein ist die Welt enthalten und die Entstehung der Welt und das Ende der Welt und der Pfad, der zum Ende der Welt führt." (A IV, 45)

Und wieder sprach der Erhabene: "Wenn aus irgend einem Grunde mannigfache Wahrnehmungen der Außenwelt (papancasannyāsankhā) an den Menschen herantreten und er sich nicht an ihnen ergötzt, sich nicht auf sie einläßt und nicht an ihnen hangt, so ist dies das Ende widerwilliger Abneigung, das Ende des Spekulierens (ditthānusaya), das Ende des unsicheren Schwankens, das Ende stolzer Anmaßung, das Ende des Machtstrebens (bhavarāgānusaya "das leidenschaftliche Begehren nach Macht"; bhava bedeutet hier nicht nur "werden", sondern, wie sonst gelegentlich vibhava "Macht, Bedeutung, Machtentfaltung"), das Ende des Irrens (avijjānusaya), das Ende von Kampf und Krieg, von Streit und Zank, von Zwietracht und Lüge; dann schwinden alle diese unheilvollen Dinge dahin." (M 18)

Nachdem Buddha dies gesagt hatte, stand er auf und begab sich in das Gemeindehaus (vihāra). Die anwesenden Bhikkhus baten darauf Mahākaccāna, ihnen den Ausspruch Buddhas zu erläutern. Kaccāna empfahl ihnen zunächst, sich mit ihrer Bitte an Buddha selbst zu wenden. Da sie aber darauf bestanden, daß er ihnen die Erläuterungen geben sollte, führte er aus:

 

"Wenn ein Auge da ist und sichtbare Dinge da sind, entsteht Sehen (cakkhuvinnyāna ist nicht "Sehbewußtsein", sondern "mit dem Auge erkennen", d.h. sehen); treffen diese drei zusammen, so entsteht eine Berührung oder ein Eindruck. Ist ein Eindruck da, so entsteht eine Empfindung. Was man empfindet, das nimmt man wahr; was man wahrnimmt, das verarbeitet man geistig oder davon bildet man Begriffe (vitakketi). Wovon man Begriffe gebildet hat, das breitet man aus als Außenwelt (papanceti). Was man als Außenwelt ausbreitet, das sind die mannigfachen Wahrnehmungen der Außenwelt (papancasannyāsankhā), die an den Menschen herantreten in den vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen sichtbaren Dingen.

 

Wenn ein Ohr da ist und Töne da sind, entsteht Hören. . . . wenn eine Nase da ist und Düfte da sind, entsteht Riechen, . . . wenn eine Zunge da ist und Säfte da sind, entsteht Schmecken, . . . wenn ein Körper da ist und tastbare Dinge da sind, entsteht Tasten (kāyavinnyān "mit dem Körper erkennen", d.h. tasten), . . .wenn ein Organ des inneren Sinnes (manas, sprachlich entsprechend dem lateinischen mens). da ist und psychische Dinge (dhammā) da sind, entsteht Vorstellen (manovinnyāna "mit dem inneren Sinn, dem Verstand oder Geist erkennen", d.h. vorstellen). Treffen diese drei - im letzten Falle: Organ des inneren Sinnes, psychische Dinge und Vorstellen - zusammen, so entsteht eine Berührung oder ein Eindruck. Ist ein Eindruck da, so entsteht eine Empfindung. Was man empfindet, das nimmt man wahr; was man wahrnimmt, das verarbeitet man geistig oder davon bildet man Begriffe. Wovon man Begriffe gebildet hat, das breitet man aus als Außenwelt; was man als Außenwelt ausbreitet, das sind die mannigfachen Wahrnehmungen der Außenwelt, die an den Menschen herantreten in den vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen psychischen Dingen."

 

Weiter sagte Kaccāna:

 

"Wenn ein Auge da ist, wenn sichtbare Dinge da sind und Sehen stattfindet, so ist es möglich, daß dann eine Berührung oder ein Eindruck zustande kommen wird. Wenn ein Eindruck entstanden ist, so ist es möglich, daß eine Empfindung zustande kommen wird. Wenn eine Empfindung entstanden ist, so ist es möglich, daß eine Wahrnehmung zustande kommen wird. Wenn eine Wahrnehmung entstanden ist, so ist es möglich, daß eine Begriffsbildung zustande kommen wird. Wenn sich Begriffe gebildet haben, so ist es möglich, daß ein Herantreten der mannigfachen Wahrnehmungen der Außenwelt zustande kommen wird.

 

Mit den gleichen Worten wird das Zustandekommen der anderen fünf Sinneswahrnehmungen dargestellt. Dann folgt die Umkehrung:

 

"Wenn kein Auge da ist, keine sichtbaren Dinge da sind und kein Sehen stattfindet, so ist es nicht möglich, daß eine Berührung oder ein Eindruck zustande kommen wird. Ist kein Eindruck entstanden, so ist es nicht möglich, daß eine Empfindung zustande kommen wird. Ist keine Empfindung entstanden, so ist es nicht möglich, daß eine Wahrnehmung zustande kommen wird. Ist keine Wahrnehmung entstanden, so ist es nicht möglich, daß eine Begriffsbildung zustande kommen wird. Sind keine Begriffe entstanden, so ist es nicht möglich, daß ein Herantreten der mannigfachen Wahrnehmungen der Außenwelt zustande kommen wird."

 

Wieder wird das gleiche für die anderen fünf Sinne ausgeführt. Dann fuhr Kaccāna fort:

 

"Was der Erhabene in Kürze ausgesprochen hat, das habe ich in ausführlicher Darlegung so verstanden. Wenn ihr wollt, fragt den Erhabenen, und was euch der Erhabene sagt, daran haltet euch!"

Die Bhikkhus fragten Buddha, und er antwortete: "Kundig und weise ist Mahākaccana. Wenn ihr mich gefragt hättet, würde ich euch die Sache ebenso erklärt haben. Haltet euch daran!" (M 18)

Der Ausspruch Buddhas, den Kaccāna - oft auch Mahākaccāna genannt - erläuterte, ist ein echtes Sutta, sanskrit: sūtra, ein "Leitfaden" oder ein "kurzer Lehrsatz", ein Merksatz, eine Zusammenstellung von Stichworten, die auswendig gelernt und in freier Rede ausführlich erklärt wurden. In der Form solcher kurzen Merksätze wurden im alten Indien die Lehren der Meister im Gedächtnis aufbewahrt und vom Lehrer auf den Schüler übermittelt. Nebenher ging die Überlieferung eines mehr oder weniger freien Kommentars, dessen Wortlaut nach den Umständen wechseln konnte.

Hier, im 18. Sutta des Majjhima-Nikaya, ist, wie an vielen Stellen des Pali-Kanons, der erste Kommentar, die Erläuterung, gleich mit überliefert, ja, Kaccāna hat seinem ersten Kommentar gleich noch einen zweiten hinzugefügt, den wir mit den Worten: "Weiter sagte Kaccāna" einleiteten, und beide Kommentare stehen in ihrem Wortlaut fest wie das Sutta selbst; aber auch diese Kommentare werden innerhalb der Bhikkhu-Gemeinde, und zwar von Fall zu Fall in freier Rede, noch weiter erläutert worden sein; und eine solche weitere Erläuterung ist auch für uns in der Gegenwart erforderlich.

Betrachtet man den Ausspruch Buddhas für sich allein, so scheint der Schwerpunkt auf der ethischen Seite zu liegen: Wenn man sich frei macht von dem Hangen an weltlichen Dingen, dann überwindet man alle üblen Gemütszustände und gelangt zum Frieden. Zweifellos lag Buddha daran, diese wichtige, von ihm immer wieder verkündete Lehre seinen Jüngern noch einmal in einer besonders einprägsamen Form vorzutragen. Aber die wohlgeschulten Bhikkhus, denen diese Lehre schon geläufig war, merkten sofort, daß Buddha diesmal noch etwas Besonderes, etwas Neues gesagt hatte, was sie bisher von ihm nicht gehört hatten. Das besondere Neue fanden sie mit Recht in dem Wort papanca, das hier offenbar das Stichwort ist, das gemerkt und erläutert werden sollte.

Dieses Wort wurde selten gebraucht, und es ist außerdem mehrdeutig, und darum baten die Bhikkhus den als gelehrt und weise bekannten Mahākaccāna um eine Erläuterung, Kaccāna merkte auch sofort, daß es auf dieses Wort papanca ankam, und er wußte auch, "was dahinter steckt". Darum ließ er den ethischen Gehalt des Buddha-Worts als bekannt beiseite und befaßte sich ausführlich nur mit dem Wort papanca.

Nach Childers' Dictionary bedeutet das Wort: "Zerstreutheit, Weitschweifigkeit; Aufschub, Verzug; im religiösen Sinn irgendeiner der üblen Zustände, wie übler Wunsch, falsche Lehre, Stolz, der den Menschen in seinem geistigen Fortschritt hemmt oder hindert." Das P.T.S Dictionary gibt an: "Hindernis, Aufschub, Illusion, Besessenheit, Hindernis für geistigen Fortschritt; und für papancasannyā: Besessenheitsidee, fixe Idee." Dies alles paßt hier nicht. Das entsprechende Sanskrit-Wort prapanca hat nach Capeller's Dictionary folgende Bedeutung: "Ausdehnung, Entwicklung, Weitschweifigkeit, Erweiterung; sichtbare Welt oder das Universum (philosophisch)."

Offenbar hat Buddha das Wort in dem letzten, dem philophischen Sinn gebraucht. Das war ungewöhnlich, und darum verlangten die Bhikkhus nach einer Erklärung. Kaccāna sagte ihnen, daß das Wort hier diese philosophische Bedeutung hat, und Buddha bestätigte es nachher. In dem Merksatz Buddhas steckt aber noch mehr: "Wenn aus irgend einem Grunde mannigfache Wahrnehmungen des papanca, der sichtbaren Welt, an den Menschen herantreten", sagte er, und es bedurfte der Erklärung, was damit gemeint war. Wie treten die mannigfachen Wahrnehmungen des papanca an den Menschen heran? Dies bedeutet, in die Sprache der deutschen Philosophen übersetzt: Wie kommt im Menschen die Erkenntnis der Welt zustande? Oder, wie Kant sich ausdrückte: Wie ist Erkenntnis möglich? Dies ist das Problem der Erkenntnislehre, das Kant in seiner "Kritik der reinen Vernunft" als erster Philosoph des Abendlandes gelöst hat. Aus dem 18. Sutta des Majjhima-Nikaya aber erfahren wir, daß lange vor Kant Buddha das Problem als solches erkannt und gelöst hat und daß Kaccāna die Lösung kannte und sie im Sinne Buddhas darlegen konnte. Wenn auch der Wortlaut der Lösung, wie man es nicht anders erwarten kann, bei den beiden großen Denkern, zwischen denen mehr als 2000 Jahre liegen, verschieden ist, so ist doch ihr Sinn der gleiche. Der Sinn muß notwendig der gleiche sein; denn das Problem kann nur eine richtige Lösung haben.

 

Kaccāna stellt an die Spitze seiner Ausführungen die Tätigkeit der sechs Sinne (ayatana). Das sind die uns geläufigen fünf äußeren Sinne und dazu als sechster der innere Sinn, die Empfänglichkeit für außerhalb liegende psychische Dinge. Wie dem Auge als Sehorgan die sichtbaren Dinge (rūpa) gegenüberstehen, so stehen dem Organ des inneren Sinns, dem Manas, die unkörperlichen, psychischen Dinge (dhamma) gegenüber. Unter Manas muß also hier das Organ verstanden werden, das die Fähigkeit hat, von außen her Eindrücke aufzunehmen, die nicht durch die fünf äußeren Sinne vermittelt werden; mit anderen Worten: entweder das Organ zur Wahrnehmung der im Unterbewußtsein durch die Sankhara gebildeten Vorstellungen und Begriffe - oder das Organ der Telepathie, des räumlichen Hellsehens, des Gedankenlesens und ähnlicher Phänomene. Ob das Wort hier die eine oder die andere dieser beiden Bedeutungen hat, mag in diesem Zusammenhang unentschieden bleiben. Jedenfalls muß es das Organ bezeichnen, das von außen an den Menschen herantretende psychische Dinge aufnimmt; sonst wäre Manas nicht ein Analogon zu Auge, Ohr, Nase, Zunge und tastendem Körper.

Bei dem fünften Sinn, dem tastenden Körper (kāya) werden verschiedene Empfänglichkeiten zusammengefaßt: neben dem eigentlichen Tastsinn, der Hartes und Weiches, Festes und Flüssiges unterscheidet, gehören dazu noch die Muskelempfindungen, die uns die Grundlage geben für die Begriffe Bewegung und Ruhe, lang, breit, hoch, d.h. räumliche Ausdehnung, ferner der Temperatursinn und noch einige andere Qualitätssinne.

Die Empfänglichkeit der Sinne, das Vermögen, Eindrücke aufzunehmen, "von Gegenständen affiziert zu werden", wie Kant sagt, ist das, was Kant die "Sinnlichkeit" nennt. Und nun vergleiche man den ersten Absatz von Kaccānas Erläuterung mit dem Anfang von Kants "Kritik der reinen Vernunft" § 1:

Kant sagt: "Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese aber findet nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird, dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere." (Affizieren entspricht genau dem Pali-Wort phusati = berühren, einen Eindruck machen.) "Die Fähigkeit (Receptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (directe) oder im Umschweif (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.

Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. . .

Vermittelst des äußeren Sinnes (einer Eigenschaft unseres Gemüts) stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor. Darinnen ist ihre Gestalt, Größe und Verhältnis gegeneinander bestimmt oder bestimmbar."

Soweit Kant. Ist es nicht dem Sinne nach genau, fast Satz für Satz, dasselbe, was Kaccāna ausführte?

 

Fassen wir das Ergebnis noch einmal zusammen:

Wenn die Empfänglichkeit der Sinne, die "Sinnlichkeit" Kants, vorhanden ist, dann kann eine Berührung mit den Gegenständen der Sinne stattfinden, wir können von ihnen "affiziert" werden. Durch die Berührung, den Eindruck oder die Affizierung kann eine Empfindung entstehen.

Empfindung ist etwas Unkörperliches, Psychisches, sie ist unräumlich und enthält nichts Räumliches. Sie hat aber auch, wenigstens für die sinnliche Wahrnehmung, keine zeitliche Dauer, sondern sie ist streng an die Gegenwart gebunden. Die Gegenwart aber ist nichts weiter als der Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wie der Punkt im Raum keine Ausdehnung hat, so hat der Punkt in der Zeit keine Dauer.

Hier müssen wir jedoch eine Einschränkung machen: Der Satz, daß der Punkt keine Ausdehnung hat, gilt nur für die reine Mathematik, die es mit gedachten Größen zu tun hat. In der Wirklichkeit, in der Natur, gibt es keinen mathematischen Punkt, und so gibt es in der Wirklichkeit auch keinen mathematischen Zeit-Punkt, dessen Dauer gleich null wäre, und die Gegenwart als die zwischen Vergangenheit und Zukunft liegende Zeit ist nicht gleich null, sondern nur von unmerklich und unmeßbar kurzer Dauer. Wäre sie gleich null, so wäre auch die Empfindung gleich null, und es würde aus den Empfindungen, wenn auch noch so viele addiert würden, nie eine Wahrnehmung entstehen. Die Dauer der einzelnen Empfindung ist aber so kurz, daß sie für die sinnliche Wahrnehmung der Null nahezu gleichkommt. In dem Augenblick, in dem die Empfindung entsteht, ist sie auch schon vorüber. Sie wird nicht wahrgenommen, sie ist noch keine Wahrnehmung, aber sie muß da sein als die Grundlage aller Wahrnehmung. Nicht die einzelne Empfindung kann wahrgenommen werden, sondern nur die Zusammenfassung einer Reihe von Empfindungen, und diese Zusammenfassung, die Synthese, besorgt der Verstand.

Das wußte auch Dharmakīrti, ein großer buddhistischer Philosoph des 7. Jahrhunderts nach Chr., der hierüber schrieb (nach Th. Stcherbatzky, "Erkenntnistheorie und Logik nach der Lehre der späteren Buddhisten"):

"Die gesonderten Momente werden in unserem Bewußtsein zur Kette vereinigt; die Einheit, die diese Kette darstellt, existiert nur dank unserem Bewußtsein, das die gesonderten Momente in der Kette vereinigt. Nur die vereinigten Momentketten werden durch unser Bewußtsein deutlich erkannt. Der einzelne Moment ist für das Bewußtsein vollkommen unzugänglich."

 

Im Gegensatz zur Empfindung, die momentan ist und nicht zum Bewußtsein kommt, geht die Wahrnehmung in der Zeit vor sich, sie erfordert eine gewisse, wenn auch sehr kurze Dauer und faßt immer viele Momente zusammen, die bereits der Vergangenheit angehören. Wahrgenommen wird nie, was wirklich gegenwärtig ist, sondern nur, was war, was schon vergangen ist. Im gewöhnlichen Leben merken wir das nicht, weil die Zeit, die zwischen dem Eindruck, der Empfindung und der Wahrnehmung verläuft, sehr kurz ist. Von der Zeitdifferenz zwischen dem Zustand des Objekts, der wahr genommen wird, und dem Akt des Wahrnehmens können wir uns aber leicht überzeugen, wenn wir an die physikalische Tatsache der Lichtgeschwindigkeit denken. Der Lichtstrahl von der Sonne bis zu unserem Auge braucht 500 Sekunden oder 8 1/3 Minuten. Von dem nächsten Fixstern braucht er 3 l/2 Jahre, von manchen Fixsternen Tausende von Jahren. Wenn wir also die Sonne sehen, steht sie schon nicht mehr da, wo wir sie sehen; wenn wir einen Fixstern sehen, wissen wir nur, daß er vor einigen tausend Jahren dort stand, wo er für uns zu stehen scheint. Beim Schall ist der Zeitablauf leichter zu beobachten: wenn wir eine Bombe fallen hörten, war sie bereits zerplatzt und hatte ihr Unheil angerichtet.

Bei diesen Beispielen liegt allerdings der größte Teil der Zeitdifferenz zwischen dem Auftreten des Objekts und der Empfindung, nicht zwischen der Empfindung und der Wahrnehmung. Sicherlich liegt aber auch zwischen der Empfindung und der Wahrnehmung ein, wenn auch kleiner, Zeitraum, und die Wahrnehmung selbst hat im Gegensatz zur Empfindung eine meßbare zeitliche Dauer, so daß sie sich stets nur auf Vergangenes beziehen kann.

 

"Was man wahrnimmt, davon bildet man Begriffe", sagt Kaccāna, und Kant sagt dasselbe mit folgenden Worten:

"Wollen wir die Receptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern sie auf irgendeine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen, so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität der Erkenntnis der Verstand. Unsere Natur bringt es mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, das ist: nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriff sind blind. . . Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen." (Kant, Elementarlehre II, 1)

Diese Verstandestätigkeit, durch die wir das Wahrgenommene zu Begriffen verarbeiten und die uns gewöhnlich nicht zum Bewußtsein kommt, wird in der Buddha-Lehre Sankhārā genannt. Erst wenn die Sankhārā ihre Tätigkeit vollendet haben, tritt das, was sie geschaffen haben, nämlich die Begriffe, ins Bewußtsein.

Kaccāna fährt fort: "Wovon man Begriffe gebildet hat, das breitet man aus als Außenwelt." Kant drückt dasselbe so aus: "Damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden, ingleichen damit ich sie als außer und nebeneinander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. Demnach kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußern Erscheinung geborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich." (Kant, Kritik der reinen Vernunft I § 2.)

Die Lösung des Problems ist also die gleiche: Die Ausbreitung der Außenwelt oder die Erkenntnis der räumlichen Welt kommt durch zwei Faktoren zustande, von denen keiner fehlen darf: der eine Faktor ist die Empfänglichkeit oder Rezeptivität der Sinne, die "Sinnlichkeit", vermöge deren die Sinne mit irgend etwas außerhalb des erkennenden Subjekts zusammentreffen, sich berühren, affiziert werden; der andere Faktor ist eine geistige Tätigkeit des erkennenden Subjekts, der Verstand, vermöge dessen die von den Sinnen dargebotenen Zeichen zusammengefaßt und in die Raumvorstellung eingeordnet werden, so daß Begriffe von körperlichen Dingen entstehen. Das Zusammenwirken der beiden Faktoren vollzieht sich unbewußt, erst das Ergebnis dieses Zusammenwirkens kommt zum Bewußtsein als Ausbreitung der Außenwelt. Wie jenes "Etwas", das sich mit den Sinnen berührt oder die Sinne affiziert, beschaffen ist - Kant nennt es das "Ding an sich" - kann niemals erkannt werden, denn es liegt jenseits des Erkenntnisvorgangs. Nur das Produkt aus den von den Sinnen empfangenen Eindrücken und der Tätigkeit des Verstandes ist das, was wir als Außenwelt erkennen.

Ein Beispiel möge das verdeutlichen. Es wird wahrgenommen: mit dem Auge Rotes in verschiedenen Abstufungen und Grünes; mit der Nase ein eigentümlicher, lieblicher Duft; mit dem tastenden Finger ein schmerzhafter Stich. Diese Wahrnehmungen treten nicht zufällig und vereinzelt auf, sondern jedesmal, wenn die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, in der gleichen Verbindung. Dann sagt man: Hier ist ein Ding, das die Eigenschaften hat, welche wahrgenommen wurden; es ist rot, darunter und daneben grün, es duftet lieblich und es sticht, wenn man es berührt. Man nennt das Ding eine Rose mit Stiel, Blättern und Dornen. Die Begriffe "Ding" und "Rose" bildet der Verstand, und wenn er sie gebildet hat, legt er ihnen die durch die Sinne erzeugten Wahrnehmungen als Eigenschaften bei. Was das ist, was die Empfindungen verursacht, aus denen die Wahrnehmungen entstehen, können wir niemals wissen. Aber das können wir wissen, daß "Ding" und "Rose" Begriffe sind, die der Verstand bildet. Er wird dazu zwar veranlaßt, ja genötigt durch das regelmäßige Zusammentreffen der verschiedenen Wahrnehmungen, aber er schafft sie trotzdem selbsttätig. Wie alle Dinge, so ist auch die Rose ein Erzeugnis des Verstandes, ein Gebilde des Denkens, und ebenso ist unser Körper, unsere Persönlichkeit, ist die ganze Welt nichts weiter als ein Gebilde des Denkens.

Darum ist das, was wir die Welt nennen, "in diesem sechs Fuß hohen Leib mit seinem Wahrnehmen und Bewußtsein enthalten und die Entstehung der Welt und das Ende der Welt und der Pfad, der zum Ende der Welt führt." Und wenn wir erkennen, daß die Weltausbreitung auf solche Weise zustande kommt, dann betrachten wir die Welt als leer. Betrachten wir sie aber auf Grund dieses Wissens als leer, so hört alles Haften an der Welt auf, und der Tod hat für uns seine Schrecken verloren; er kann uns nicht berühren. "Der Todesfürst sieht uns nicht."

 

Die vorstehenden Ausführungen wurden im Herbst 1947 für M. D. Gunasena & Co. Ltd. in Colombo für deren singhalesische buddhistische Zeitschrift verfaßt, dort in die singhalesische Sprache übersetzt und im Mai 1948 in dieser Zeitschrift veröffentlicht. Gleichzeitig erschien eine englische Übersetzung in der Vesak-Nummer der Zeitschrift "The Buddhist" in Colombo. Durch diese beiden Veröffentlichungen erfuhren die Buddhisten in Asien zum ersten Mal wieder die wahre Bedeutung des wichtigen Sutta 18 des Majihima-Nikaya, die dort seit vielen Jahrhunderten in Vergessenheit geraten und auch in Europa bisher unbekannt war, wie aus den großen Pali-Wörterbüchern und aus den Übersetzungen von K.E. Neumann und P. Dahlke zu ersehen ist.


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