Der Weg zur Erlösung

119

2. Die Entfaltung des Mitleids (karuna-bhāvanā)

 

D.33

Da, ihr Brüder, durchdringt der Mönch mit einem von Mitleid (karunā) erfüllten Geiste erst eine Himmelsrichtung, darauf ebenso die zweite, die dritte und die vierte; und sich in allem wiedererkennend durchdringt er nach oben, unten, überall die ganze Welt mit einem von Mitleid erfüllten Geiste, einem weiten, entfalteten, unbeschränkten, frei von Groll und Übelwollen.

 

Nach Vibh. soll man zu allererst das Mitleid zur Entfaltung bringen, wenn man z. B. irgend einen mißgestalteten, in äußerste Not und Elend geratenen, notleidenden, armen oder verhungerten Menschen erblickt, wie es heißt (Vibh. XIII):

„Wie aber durchstrahlt der Mönch mit einem von Mitleid erfüllten Geiste erst eine Himmelsrichtung? Gleichwie man beim Anblicke eines im Elend lebenden notleidenden Menschen Mitleid empfindet, genau so durchstrahlt der Mönch alle Wesen mit Mitleid."

Das Mitleid soll also, genau wie die Allgüte, zuerst nicht auf solche Personen wie einen sehr lieben Freund usw. gerichtet werden. Die Segnungen sind dieselben wie die der Allgüte. Auch die Methode der Entfaltung ist dieselbe.

 

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3. Die Entfaltung der Mitfreude (muditā-bhāvanā)

 

D. 33

Da, ihr Mönche, durchdringt der Mönch mit einem von Mitfreude (muditā) erfüllten Geiste erst eine Himmelsrichtung; darauf ebenso die zweite, die dritte und die vierte; und sich in allem wiedererkennend durchdringt er nach oben, unten, überall die ganze Welt mit einem von Mitfreude erfüllten Geiste, einem weiten, entfalteten, unbeschränkten, frei von Groll und Übelwollen.

 

Diese Übung mag man zuerst mit Hinsicht auf einen von Freude überschäumenden lieben Freund erwecken, denkend: ,O, wie sich dieser freut! O, wie gut! O, wie schön!’ In Vibh. XIII heißt es:

„Und wie durchstrahlt der Mönch mit einem von Mitfreude erfüllten Geiste erst eine Himmelsrichtung? Gleichwie man da beim Anblicke eines lieben, teuren Menschen Freude empfindet, genau so durchstrahlt er alle Wesen mit Mitfreude."

Die Segnungen und die Entfaltungsmethode sind dieselben wie die der Allgüte.

 

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4. Die Entfaltung des Gleichmuts (upekkhā-bhāvanā)

 

D. 33

Da, ihr Mönche, durchdringt der Mönch mit einem von Gleichmut (upekkhā) erfüllten Geiste erst eine Himmelsrichtung, darauf ebenso die zweite, die dritte und die vierte; und sich in allem wiedererkennend durchdringt er nach oben, unten, überall die ganze Welt mit einem von Gleichmut erfüllten Geiste, einem weiten, entfalteten, unbeschränkten, frei von Groll und Übelwollen.

 

Die Übung hat man zuerst auf eine einem völlig gleichgültige Person zu richten, wie es heißt (Vibh. XIII):

Und wie durchstrahlt der Mönch mit einem von Gleichmut erfüllten Geiste erst eine Himmelsrichtung? Gleichwie, wenn man da jemanden erblickt, der einem weder angenehm noch unangenehm ist, man eben gleichgültig bleibt, genau so durchstrahlt er alle Wesen mit Gleichmut."

Bei dieser Übung mögen die vier Vertiefungen eintreten, während bei den früheren Übungen infolge Anwesenheit von Freude bzw. Mitleid der gleichmütige Zustand der vierten Vertiefung nicht erreicht werden kann.

Segnungen und Entfaltungsmethode sind dieselben der Allgüte.

 

122

A.VIII.63

Sobald, o Mönch, der Geist in deinem Innern standhaft ist, wohlgefestigt und ihn die üblen, unheilsamen Dinge nicht mehr fesseln, so hast du, o Mönch, danach zu streben: ,Die Allgüte, die gemüterlösende, soll in mir entfaltet, häufig geübt, zur Triebfeder und Grundlage gemacht, gefestigt, großgezogen und zur rechten Vollendung gebracht werden!’ Danach, o Mönch, hast du zu streben.

Sobald aber, o Mönch, diese Sammlung also entfaltet und wohl geübt ist, so hast du, o Mönch, danach zu streben: ,Das gemüterlösende Mitleid . . . die gemüterlösende Mitfreude . . . der gemüterlösende Gleichmut soll in mir entfaltet, häufig geübt, zur Triebfeder und Grundlage gemacht, gefestigt, großgezogen und zur rechten Vollendung gebracht werden!’ Danach, o Mönch, hast du zu streben.

Sobald aber, o Mönch, diese Sammlung entfaltet und wohl geübt ist, so magst du, o Mönch, diese Sammlung mit Gedankenfassen und Überlegen (erste Vertiefung) üben; magst du sie ohne Gedankenfassen und Überlegen (zweite Vertiefung) üben; magst du sie mit Verzückung üben; magst du sie ohne Verzückung (dritte Vertiefung) üben; magst du sie mit Freude üben; magst du sie mit Gleichmut (vierte Vertiefung) üben.

 

123

D. 33

Ist die gemüterlösende Allgüte, ihr Brüder, entfaltet häufig geübt, zur Triebfeder und Grundlage gemacht, gefestigt, großgezogen und zur rechten Vollendung gebracht, so ist es unmöglich, kann nicht sein, daß einen das Übelwollen den Geist fesseln sollte; denn als Entrinnung vom Übelwollen, ihr Brüder, gilt die gemüterlösende Allgüte . . .

Ist das gemüterlösende Mitleid, ihr Brüder, entfaltet, häufig geübt, zur Triebfeder und Grundlage gemacht, gefestigt, großgezogen und zur rechten Vollendung gebracht, so ist es unmöglich, kann nicht sein, daß einer die Verdrossenheit den Geist fesseln sollte; denn als Entrinnung von der Verdrossenheit, ihr Brüder, gilt das gemüterlösende Mitleid . . .

Ist die gemüterlösende Mitfreude, ihr Brüder, entfalte häufig geübt, zur Triebfeder und Grundlage gemacht, gefestigt, großgezogen und zur rechten Vollendung gebracht, so ist es unmöglich, kann nicht sein, daß einem die Unlust den Geist fesseln sollte; denn als Entrinnung von der Unlust, ihr Brüder, gilt die gemüterlösende Mitfreude . . .

Ist der gemüterlösende Gleichmut, ihr Brüder, entfaltet, häufig geübt, zur Triebfeder und Grundlage gemacht, gefestigt, großgezogen und zur rechten Vollendung gebracht, so ist es unmöglich, kann nicht sein, daß einem die Gier den Geist fesseln sollte; denn als Entrinnung von der Gier, ihr Brüder, gilt der gemüterlösende Gleichmut.

 

124

S.46.54

1. Inwiefern, ihr Mönche, ist die geisterlösende Allgüte entfaltet? Was ist ihr Ausgang? Worin gipfelt sie? Was ist ihr Ergebnis, ihr Ende?

Da, ihr Mönche, entfaltet der Mönch die von Allgüte begleiteten Erleuchtungsglieder Achtsamkeit, Wahrheitsergründung, Willenskraft, Verzückung, Gestilltheit, Sammlung, Gleichmut, die auf Abgeschiedenheit, Loslösung und Loslassung gegründeten.

Wünscht er nun bei etwas Nichtwiderlichem in der Wahrnehmung des Widerlichen zu verweilen, so verweilt er dabei eben in der Wahrnehmung des Widerlichen. Wünscht er bei etwas Widerlichem in der Wahrnehmung des Nichtwiderlichen zu verweilen, so weilt er dabei eben in der Wahrnehmung des Nichtwiderlichen. Wünscht er bei etwas Nichtwiderlichem und Widerlichem in der Wahrnehmung des Widerlichen zu verweilen, so weilt er dabei eben in der Wahrnehmung des Widerlichen. Wünscht er beides, Nichtwiderliches und Widerliches, zu vermeiden und gleichmütig zu verweilen, achtsam, klarbewußt, so verweilt er dabei eben gleichmütig, achtsam, klarbewußt. Oder aber er erringt die Befreiung durch die Schönheit (Vgl. Kap. 153 (3) ). Die geisterlösende Allgüte nämlich, ihr Mönche, gipfelt im Schönen, wenn da der Mönch nicht noch zu höherer Befreiung durchdringt.

 

2. Inwiefern aber, ihr Mönche, ist das geisterlösende Mitleid entfaltet? Was ist sein Ausgang? Worin gipfelt es? Was ist sein Ergebnis, sein Ende?

Da, ihr Mönche, entfaltet der Mönch die von Mitleid begleiteten Erleuchtungsglieder Achtsamkeit, Wahrheitsergründung, Willenskraft, Verzückung, Gestilltheit, Sammlung, Gleichmut, die auf Abgeschiedenheit, Loslösung, Erlöschung und Loslassung gegründeten.

Wünscht er nun bei etwas Nichtwiderlichem . . . klarbewußt. Oder aber durch völlige Überwindung der Körperlichkeitswahrnehmungen, das Schwinden der Rückwirkswahrnehmungen, das Nichterwägen der Vielheitswahrnehmungen gewinnt er in der Vorstellung: ,Unendlich ist der Raum’ das Gebiet der Raumunendlichkeit (s. Kap. 130). Das geisterlösende Mitleid nämlich ihr Mönche, gipfelt im Gebiet der Raumunendlichkeit, wenn da der Mönch nicht noch zu höherer Befreiung durchdringt.

 

3. Inwiefern aber, ihr Mönche, ist die geisterlösende Mitfreude entfaltet? Was ist ihr Ausgang? Worin gipfelt sie? Was ist ihr Ergebnis, ihr Ende?

Da, ihr Mönche, entfaltet der Mönch die von Mitfreude begleiteten Erleuchtungsglieder Achtsamkeit, Wahrheitsergründung, Willenskraft, Verzückung, Gestilltheit, Sammlung, Gleichmut, die auf Abgeschiedenheit, Loslösung, Erlöschung und Loslassung gegründeten.

Wünscht er nun bei etwas Nichtwiderlichem . . . klarbewußt. Oder aber durch völlige Überwindung des Raumunendlichkeitsgebietes gewinnt er in der Vorstellung: ,Unendlich ist das Bewußtsein’ das Gebiet der Bewußtseinsunendlichkeit, wenn da der Mönch nicht noch zu höherer Befreiung durchdringt (s. Kap. 131). Die geisterlösende Mitfreude nämlich, ihr Mönche, gipfelt im Gebiete der Bewußtseinsunendlichkeit.

 

4. Inwiefern aber, ihr Mönche, ist der geisterlösende Gleichmut entfaltet? Was ist sein Ausgang? Worin gipfelt er? Was ist sein Ergebnis, sein Ende?

Da, ihr Mönche, entfaltet der Mönch die von Gleichmut begleiteten Erleuchtungsglieder Achtsamkeit, Wahrheitsergründung, Willenskraft, Verzückung, Gestilltheit, Sammlung, Gleichmut, die auf Abgeschiedenheit, Loslösung, Erlöschung und Loslassung gegründeten.

Wünscht er nun bei etwas Nichtwiderlichem in der Wahrnehmung des Widerlichen zu verweilen, so verweilt er dabei eben in der Wahrnehmung des Widerlichen. Wünscht er bei etwas Widerlichem in der Wahrnehmung des Nichtwiderlichen zu verweilen, so weilt er dabei eben in der Wahrnehmung des Nichtwiderlichen. Wünscht er bei etwas Nichtwiderlichem und Widerlichem in der Wahrnehmung des Widerlichen zu verweilen, so weilt er dabei eben in der Wahrnehmung des Widerlichen. Wünsche er beides, Nichtwiderliches wie Widerliches, zu vermeiden und gleichmütig zu verweilen, achtsam, klarbewußt, so verweilt er dabei eben gleichmütig, achtsam, klarbewußt. Oder aber durch völlige Überwindung des Bewußtseinsunendlichkeitsgebietes gewinnt er in der Vorstellung: ,Nichts ist da’ das Nichtsheitgebiet (s. Kap. 132). Der geisterlösende Gleichmut nämlich, ihr Mönche, gipfelt im Nichtsheitgebiete, wenn da der Mönch nicht noch zu höherer Befreiung durchdringt.

Über die Erreichung der zehn Vollkommenheiten (pārami) durch diese vier Unermeßlichkeiten sagt Vis. IX, s. 317:

„Hat der Mönch nun auf diese Weise die im Gipfeln im Schönen usw. bestehende Macht kennengelernt, so möge er auch wissen, daß alle diese Übungen die sämtlichen edlen Dinge wie Freigebigkeit usw. zur Vollendung bringen.

Weil nämlich die großen Wesen (mahāsatta = bodhisatta) auf der Wesen Wohl bedacht sind, der Wesen Leiden nicht dulden. den besonderen Glückszuständen der Wesen lange Dauer wünschen und zu allen Wesen, da sie keiner besonderen Seite zuneigen, gleiche Gesinnung hegen, darum geben sie allen Wesen zu ihrer Beglückung Gaben (dāna), ohne zu prüfen, ob diese oder jene der Gaben würdig sind oder nicht. Indem sie es vermeiden, die Wesen zu verletzen, befolgen sie die Sittlichkeit (síla). Um die Sittlichkeit zur Vollendung zu bringen, üben sie Entsagung (nekkhamma). Um hinsichtlich dessen, was für die Wesen heilsam und unheilsam ist, die Unverblendung zu erreichen, läutern sie ihr Wissen (paññā). Dem Heile und Wohle der Wesen zuliebe strengen sie beständig ihre Willenskraft (viriya) an. Haben sie aber durch höchste Willenskraft selbst die Heldenhaftigkeit erreicht, so sind sie dennoch voll Nachsicht (khanti) gegen die vielartigen Verfehlungen der Wesen. Ein gegebenes Versprechen, etwas zu geben oder zu tun, brechen sie nicht (Wahrhaftigkeit: sacca). Mit unerschütterlichem Entschlusse (adhitthāna) wirken sie zum Heile und Wohle der Wesen. Mit unerschütterlicher Güte (mettā) dienen sie ihnen in hingebender Weise. In ihrem Gleichmute (upekkhā) erwarten sie keine Gegendienste.

Während sie so die (zehn) Vollkommenheiten zur Vollendung bringen, erwirken sie gleichzeitig alle edlen Eigenschaften, hin auf bis zu den zehn Kräften, den vier Arten des Selbstvertrauens, den sechs ungewöhnlichen Wissen und den zehn Eigenschaften eines Erleuchteten."

Von den kanonischen Schriften geben bloß zwei apokryphe Werke, Buddhavamsa und Cariyapitaka, eine Aufzählung der zur Buddhaschaft führenden obigen Vollkommenheiten (Wtb.)

 

126

A.I.31

Wer von den Mönchen, ihr Mönche, auch nur für einen einzigen Augenblick die herzerlösende Güte pflegt . . . das herzerlösende Mitleid pflegt . . . die herzerlösende Mitfreude pflegt . . . den herzerlösenden Gleichmut pflegt, ein solcher Mönch, heißt es, vertieft sich nicht vergebens, folgt der Lehre und Weisung des Meisters und verzehrt nicht unwürdig die von den Leuten dargebotene Speise - und was soll da erst von jenen gesagt werden, die diese Übungen beharrlich pflegen?

 

127

A.X.208

„Der edle Jünger, frei von Begierde und Groll, unverblendet, geistesklar und besonnen, durchstrahlt mit einem von Allgüte . . . von Mitleid . . . von Mitfreude . . . von Gleichmut erfüllten Geiste erst eine Himmelsrichtung, darauf ebenso die zweite, die dritte, die vierte; und sich in allem wiedererkennend durchdringt er nach oben, unten, überall die ganze Welt mit einem von Allgüte . . . von Mitleid . . . von Mitfreude . . . von Gleichmut erfüllten Geiste, einem weiten, entfalteten, unbeschränkten, frei von Groll und Übelwollen. Und er erkennt: ,Früher war dieser mein Geist beschränkt und unentfaltet. Nunmehr aber ist mein Geist unbeschränkt, wohlentfaltet, und keine beschränkte Tat wird darin zurückbleiben, darin verharren.

Was meint ihr, ihr Mönche, wenn da ein Knabe schon von frühester Kindheit an die geisterlösende Allgüte . . . das geisterlösende Mitleid . . . die geisterlösende Mitfreude . . . den geisterlösenden Gleichmut entfalten würde, möchte er dann wohl noch böse Taten verüben?"

„Gewiß nicht, o Ehrwürdiger."

„Wenn er aber keine bösen Taten mehr verübt, wird ihn dann wohl noch Leiden treffen?"

„Gewiß nicht, o Ehrwürdiger. Wie sollte wohl einen, der keine böse Tat verübt, noch Leiden treffen?"

„Die Allgüte, ihr Mönche . . . das Mitleid . . . die Mitfreude . . . den Gleichmut sollte man entfalten, ganz gleich, ob Mann oder Weib. Nicht vermag, ihr Mönche, Mann oder Weib beim Abscheiden diesen Körper mit sich zu nehmen; der Sterbliche hat den Geist als das Vermittelnde. Er aber weiß: ,Was immer ich da früher mit diesem stofflichen Körper an bösen Taten verübt habe, das alles muß ich hier noch auswirken, und nichts davon wird nachfolgen.’ Auf diese Weise entfaltet, ihr Mönche, führt die geisterlösende Allgüte . . . das geisterlösende Mitleid . . . die geisterlösende Mitfreude . . . der geisterlösende Gleichmut zur Niewiederkehr (anāgāmitā), sei es denn, daß der einsichtsvolle Mönch nicht schon hier zu einer höheren Befreiung durchdringt."


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