Vangīsa, ein Brahmanensohn wie Sāriputta, war mit zwei seltenen Anlagen begabt: er konnte aus dem Stegreif dichten und besaß die parapsychische Fähigkeit, die man heute Psychometrie nennt. Wenn er im Kreise der Jünger dem Erhabenen zuhörte oder mit seinen Mitbrüdern im Gespräch über die Lehre beisammensaß, dann sprang er zuweilen auf, entblößte eine Schulter vom Obergewand, verneigte sich mit zusammengelegten Händen ehrfurchtsvoll vor dem Erhabenen oder vor dem das Gespräch leitenden Jünger und sagte: "Mir leuchtet etwas auf!" Damit gab er zu erkennen, daß sich unter dem Eindruck des soeben Gehörten in seinem Geist ein neues Lied geformt hatte, das den Inhalt der Lehrrede oder des Gesprächs in zierlichen Versen zusammenfaßte.
Am Ende der Regenzeit, bevor die Bhikkhus wieder auf die Wanderschaft gehen, halten sie an einem Vollmondtage eine Feier ab, die man Pavāranā, d.h. "Einladung" nennt, das Fest zur Läuterung. Die Feier besteht darin, daß jeder der versammelten Bhikkhus seine Mitbrüder einlädt, ihm zu sagen, ob sie an ihm eine Verfehlung bemerkt haben, damit er sie wiedergutmachen könne. Bei einer solchen Feier, die im Haus der Mutter Migāras im Osthain bei Sāvatthi in Gegenwart Buddhas stattfand, stand als erster Buddha selbst auf und sprach die Einladungsworte. Darauf bezeugte Sāriputta, daß der Erhabene in Worten und Werken nichts Tadelhaftes getan hat, daß vielmehr alle ihn als ihren Meister und ihr Vorbild verehren, und richtete an ihn die gleiche Einladung. Buddha versicherte nun, daß auch Sāriputta in Worten und Werken untadelhaft sei, rühmte Sāriputtas umfassendes Wissen und verglich ihn mit dem Thronfolger eines weltbeherrschenden Königs; so wie dieser die Weltherrschaft erbe, sei Sāriputta der erste nach Buddha im Reiche der Heilslehre. Nachdem dann Buddha auf Sāriputtas Frage bestätigt hatte, daß auch alle dort versammelten Bhikkhus frei von Tadel und treffliche Jünger seien, denen keine Wiedergeburt mehr bevorstehe, erhob sich Vangīsa und kündigte mit den Worten: "Mir leuchtet etwas auf!" ein soeben von ihm gedichtetes Lied an. Mit Erlaubnis des Erhabenen begann er zu singen:
- "Das Läut'rungsfest zu feiern sind heute wir vereint,
- Fünfhundert Bhikkhus kamen, nun, da der Vollmond scheint.
- Zerschnitten haben alle die Fesseln mehr und mehr.
- Für sie, die rein und weise, gibt's keine Wiederkehr.
- Wie einem großen König, dem alles untertan,
- Von Meer zu Meer die Fürsten sich ehrerbietig nah'n,
- So nahen sich dem Buddha, dem Herrn, dem keiner gleicht,
- Die Jünger wissensmächtig, die all' das Heil erreicht.
- Sind alle seine Söhne, kein Schwächling ist dabei.
- Verehrung ihm, dem Sieger, der brach den Dorn entzwei!"
(S I, 8, 7; Thg 1234-1237)
Eines Tages - Vangīsa gehörte noch nicht lange dem Orden an - war sein Unterweiser, der ältere Bhikkhu, der ihn bei der Führung des Bhikkhulebens anleitete, fortgegangen, und Vangīsa war als Hüter des Vihāras, des Bhikkhuheims, allein geblieben. Da kamen mehrere schöne Frauen, um den Vihāra zu besichtigen. Ihr Anblick brachte Vangīsa in Verwirrung; er geriet in Zweifel, ob er nicht wieder in das weltliche Leben zurückkehren und sich eine Frau nehmen sollte; er widerstand jedoch der Versuchung, überwand den Zweifel und feierte seinen Sieg, indem er das schnell gedichtete Lied sang:
- "Ich zog hinaus, um rein zu leben,
- Und doch fällt mich Versuchung an.
- Vor Kriegern wollte ich nicht beben,
- Und stürzten auf mich tausend Mann.
- Wie sollten Frauen mich betören?
- Ich stehe fest, laß mich nicht fangen.
- Von Buddha konnte selbst ich hören,
- Wie zum Nirvana wir gelangen.
- Und wollte Māra gar mich binden,
- Nie würde meine Spur er finden."
(S I, 8,1; Thg 1209-1213)
Zwei andere Lieder von Vangīsa stehen in meinem Buch "Sprüche und Lieder".
Die andere Besonderheit Vangīsas, seine Fähigkeit der Psychometrie, besteht darin, daß er, wenn er einen Gegenstand sah oder berührte, erkennen konnte, was der Besitzer dieses Gegenstandes erlebt hatte oder welcher Art sein Schicksal war. Daß es eine solche Fähigkeit tatsächlich gibt, wird von ernsten Forschern, wie Hans Driesch, nicht bezweifelt. Vangīsa hatte sie. In seiner Jugend hatte er sich darauf spezialisiert, aus Totenschädeln, die man ihm brachte, zu erkennen, wo und unter welchen Umständen die ehemaligen Besitzer der Schädel wiedergeboren wurden. Diese Art Wahrsagerei betrieb er im Umherziehen. Er wanderte durch die Dörfer und Städte und verkündete den Leuten, die ihm Schädel zeigten, das Schicksal der Verstorbenen. Dabei begegnete er auch einmal dem Erhabenen, der, wenn er die Menschen belehrte, gern auf die Denkgewohnheiten seiner Zuhörer Rücksicht nahm. Er tat es auch in diesem Falle. Er gab Vangīsa den Schädel eines Heiligen, der zum Nirvana eingegangen war, dem also keine Wiedergeburt bevorstand. Wäre Vangīsa ein Gaukler gewesen, der seine Kundschaft betrog, so hätte er irgend eine beliebige Auskunft gegeben. Da aber seine Kunst echt war, geriet er in Verlegenheit. Er sah, daß es bei diesem Schädel keine Wiedergeburt gab. Ein solcher Fall war ihm noch nicht vorgekommen. Dieses Erlebnis machte auf ihn einen so tiefen Eindruck, daß er sogleich Vertrauen zu Buddha faßte, seine Lehre anhörte und sie mit Eifer befolgte.
Bei seiner parapsychischen Veranlagung wurde es ihm nicht schwer, wenn er die Versenkungen übte, in der vierten Stufe das "dreifache Wissen" zu erlangen: er erreichte, wie Buddha, jenen Bewußtseinszustand, bei dem die Schranken von Raum und Zeit aufgehoben sind. Vor seinem geistigen Auge erschienen dann seine eigenen früheren Lebensläufe bis in die fernste Vergangenheit zurück, "bei der ein Anfang nicht zu erkennen ist". Das ist das erste Wissen. Dann überblickte er ebenso die Zukunft und sah das künftige Schicksal der anderen Wesen. Er sah aber auch, daß die Kette von Daseinsmomenten, die er im gewöhnlichen Leben "ich" nennt, mit dem gegenwärtigen Leben endet. So geht ihm als Folge dieses zweiten Wissens sogleich das dritte Wissen auf: Er sieht anschaulich, daß diese nun bald zu Ende gehende Kette von Daseinsmomenten nicht sein Ich ist. Ihm geht die Erkenntnis auf: "Ich bin erlöst, befreit, für mich gibt es keine Wiederkehr zur Welt." Damit verbunden ist die anschauliche Erkenntnis der vier edlen Wahrheiten, deren Kern die Erkenntnis des Nicht-Ich, des Anattā, ist, und zugleich die Fähigkeit, die Gedanken anderer zu erkennen. (S I, 8,12; Thg 1253-1262; die Einzelheiten bei Mrs. Rhys Davids: "Psalms of the Brethren", Seite 395 ff.)
Vangīsas Lieder standen bei Buddhas Jüngern in so hohem Ansehen, daß sie zwölf von ihnen zweimal überliefert haben: einmal im Samyutta-Nikāya und einmal in der Liedersammlung Theragāthā. Außerdem finden sich mehrere seiner Verse im Sutta-Nipāta wieder, hier jedoch ohne seinen Namen. Darin zeigt sich, daß diese Gedichte in alter Zeit viel und gern vorgetragen wurden.
Punna, dem Sohn der Mantāni, sind wir schon bei Sāriputta begegnet, dem er das Gleichnis von der Eilpost vortrug (Seite 33). Er stammte aus einer reichen Brahmanenfamilie in Donavatthu und wurde in den Orden aufgenommen von Kondannya, der nach der ersten Rede Buddhas im Gazellenhain bei Benares als erster die neue Lehre verstand und sich sofort Buddha als Bhikkhu anschloß. Punna gilt als der vorzüglichste Lehrredner unter den Jüngern. Er war der erste, der als Missionar zu einem unzivilisierten Volke ging, um ihm die Buddha-Lehre zu predigen. Vorher hatte er den Erhabenen um eine kurze Belehrung gebeten, gewissermaßen als Reisesegen. Buddha sagte ihm: "Wer sich den angenehmen und gefälligen Gegenständen der Sinne hingibt, genießt zwar zunächst Freuden, aber diese Freuden verwandeln sich in Leiden. Wer sich ihnen nicht hingibt, verzichtet zwar auf die Freuden, läßt aber auch kein Leiden aufkommen."
Auf Buddhas Frage, in welches Land er gehen wolle, erwiderte Punna; nach Sunāparanta (d. h. westliches oder weit entferntes Sunaland). Buddha warnte ihn: "Die Leute in Sunāparanta sind ein wildes und rohes Volk. Wie wirst du es aufnehmen, wenn sie dich beschimpfen?" - "Dann wird es mich freuen, daß sie mich nicht schlagen." - "Und wenn sie dich schlagen?" - "Dann werde ich mich freuen, daß sie mich nicht mit Erdklumpen bewerfen." - Und so weiter. Zuletzt fragte Buddha: "Wie wirst du es aufnehmen, wenn sie dich mit scharfen Schwertern töten?" - "Dann werde ich denken", sagte Punna, "manche Jünger verachten Leib und Leben und suchen nach einer Waffe, um sich zu töten; hier finde ich diese Waffe, ohne sie zu suchen." Darauf sagte Buddha: "Wenn du so friedfertig bist, Punna, magst du zu dem wilden Volk in Sunāparanta gehen."
Punna ging dann wirklich in dieses Land, und es gelang ihm schon innerhalb einer Regenzeit (oder innerhalb eines Jahres?), viele dieser Wilden - wie es nach S.35.88 heißt: fünfhundert oder nach M 145: tausend - für die Buddha-Lehre als Anhänger und Anhängerinnen zu gewinnen. Die Wilden taten ihm nichts zu leide.
Wo das Land Sunāparanta lag, ist nicht bekannt; vielleicht war es, wie Karl Eugen Neumann vermutete, das von Ptolemäus erwähnte Land der Chuni. Es ist auch nicht sicher, daß Punna, der Missionar, derselbe ist wie Punna, der Sohn der Mantāni. Der Name Punna kam zu Buddhas Zeit in Indien öfter vor.
Die Geschichte von Punna ist zweimal überliefert. Beide Berichte stimmen zum größten Teil wörtlich überein, aber die kleinen Verschiedenheiten lassen erkennen, daß die Fassung von S.35. 88 die ältere ist. Hier verwechselt z.B. Punna fünfmal "mir" und "mich" - er sagt "mam" statt "me"; fünfmal verbessert ihn Buddha, indem er in seiner Antwort "te" sagt; erst beim sechsten Mal sagt Punna richtig "me". M 145 läßt ihn jedesmal richtig "me" sagen. M verdoppelt auch die Zahl der bekehrten Wilden.
Punna ist der einzige Missionar, den der Pali-Kanon kennt. Buddha hat ihn nicht ausgesandt, nicht einmal ermutigt, sondern gewarnt. Zweifellos hat Buddha eine Missionstätigkeit nicht gewünscht. Bekehrungseifer verträgt sich nicht mit der Buddha-Lehre, die nur denen dargeboten werden soll, die sie hören wollen, aber niemandem, am wenigsten einem fremden Volk, aufgedrängt werden darf. Buddhisten reden über die Lehre nur, wenn sie darum gebeten worden sind.
Wie Ratthapāla, so war auch Subhūti der Sohn eines Setthi, eines Gildenmeisters. Sein Vater hieß Sumana und lebte in der Stadt Sāvatthi. Im Pali-Kanon ist nur sehr wenig von Subhūti die Rede. Es wird nur gesagt, daß er als der würdigste derer galt, die Gaben empfingen. (A I.14). Nach der Überlieferung, die neben den kanonischen Schriften einherging, berichtet der Schriftsteller Buddhaghosa (um 500 nach Christus in Ceylon), Subhūti habe sich durch seine "Streitlosigkeit" ausgezeichnet. Während nämlich andere Bhikkhus, wenn sie die Lehre darlegten, ihre eigenen Erläuterungen dazu gaben und die Erläuterungen anderer kritisierten, begnügte sich Subhūti immer damit, nur das vorzutragen, was der Meister gesagt hatte, ohne mit anderen über die Auslegung zu streiten. Der würdigste der Gabenempfänger war er aber deshalb, weil er während des Speisesammelns immer die Meditation der selbstlosen Liebe übte. Sein Wesen war Wohlergehen, deshalb wurde er Subhūti, d.h. Wohlergehen, genannt.
Subhūti war, nach derselben Quelle, bei der Übergabe des Jeta-Hains, einer Stiftung des reichen Kaufmanns Anāthapindika für die Bhikkhu-Gemeinde, zugegen und hörte dort eine Rede Buddhas, die ihn bewog, Bhikkhu zu werden. Danach lebte er einsam im Walde, vermehrte sein Wissen, meditierte eifrig über die selbstlose Liebe und erreichte die Heiligkeit. (Manorathapūrani zu A I.14)
Obwohl die Pali-Berichte über Subhūti nichts weiter besagen, wahrscheinlich weil er, wenn er redete, nur die Worte Buddhas gebrauchte, seine Reden also nur eine Wiederholung waren, so war er trotzdem zweifellos ein Jünger, der sich durch seine besondere Begabung von allen anderen unterschied. Diese Eigenart wußten aber anscheinend nur wenige richtig zu deuten, und das waren jene, auf deren Überlieferung sich die spätere Form des Buddhismus, das Mahāyāna, stützt. Bei ihnen stand er in höchstem Ansehn, weil er die "Leerheit" sah. Daher spann sich um ihn eine Legende, wonach er in einem völlig leeren Haus geboren wurde und dieser erste Eindruck so tief haften blieb, daß der Gedanke des Leeren sein ganzes späteres Dasein bestimmt habe. (Näheres bei Max Walleser, "Die Streitlosigkeit des Subhūti", Seite 31.)
Was Buddha meinte, wenn er von "Leerheit" sprach, habe ich in meinem Buch "Leer ist die Welt", Seite 34 ff., darzulegen versucht. Das Mahāyāna lehrt einen anderen Leerheitsbegriff. Ihm sind mehrere, in Sanskrit abgefaßte und ins Chinesische und Tibetische übersetzte Werke gewidmet, die unter dem Namen Prajnāpāramitā, d.h. "Weisheitsvollkommenheit'' oder "Weisheit dessen, der an das andere Ufer gelangt ist", bekannt sind. In diesen Werken erscheint Subhūti als Hauptvertreter der Lehre von der Leerheit. Wahrscheinlich aber hat er die "Leerheit" so verstanden, wie Buddha sie meinte. Er wußte, daß alle Dinge, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, nichts anderes sind als unsere Vorstellungen von den Dingen und daß in ihnen ein Wesenskern, etwas im höchsten Sinne Wirkliches, nicht zu erkennen ist. Subhūti wußte das nicht nur verstandesmäßig, sondern er sah, er schaute es. Das heißt: er sah die Leerheit. Er sah nicht nur alles Körperliche, sondern auch alles Geistige etwa so, wie wir die kinematographischen Bilder der Leinwand sehen, wenn wir uns für Augenblicke von der Illusion frei machen, sie seien die Wirklichkeit, die sie uns vorgaukeln. Es sind nur Erscheinungen für uns, nur unsere eigenen Vorstellungen, also leer.