Majjhima Nikaya, Mittlere Sammlung
Majjhima Nikaya, Mittlere Sammlung
M. 11. (II,1) Cūlasīhanāda Sutta, Der Löwenruf (von KEN)
[139]
DAS HAB' ICH GEHÖRT. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei
Sāvatthī, im Siegerwalde, im Garten Anāthapindikos. Dort nun wandte sich der
Erhabene an die Mönche: "Ihr Mönche!" - "Erlauchter!" antworteten da jene Mönche
dem Erhabenen aufmerksam. Der Erhabene sprach also:
"'Hier endlich, Mönche, findet man den Asketen, findet man
den zweiten Asketen, den dritten Asketen und den vierten Asketen, ohne Verlangen
nach Zank und Streit mit anderen Asketen': diesen echtesten Löwenruf, Mönche,
lasset erschallen.
[140]
"Aber es könnte wohl sein, ihr Mönche, daß da andersfährtige
Pilger also sprächen: 'Mit welchem Fug und Recht, ihr Ehrwürdigen, sprechet ihr
also: 'Hier endlich findet man den Asketen, findet man den zweiten Asketen, den
dritten Asketen und den vierten Asketen, ohne Verlangen nach Zank und Streit mit
anderen Asketen'?' Auf solche Rede andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre dies
die Antwort:
'Es hat uns, Brüder, der Erhabene, der Kenner, der Seher,
der Heilige, vollkommen Erwachte vier Dinge erklärt, die wir nun innig verstehn,
und darum sprechen wir also. Welche vier Dinge?
- Wir lieben, o Brüder, den Meister,
- wir lieben die Lehre,
- wir erfüllen die Regel des Ordens,
- und Rechtschaffene sind uns wert und genehm, sowohl
weltliche als geistliche.
Das, ihr Brüder, sind die vier Dinge, die uns der Erhabene,
der Kenner, der Seher, der Heilige, vollkommen Erwachte erklärt hat und die
wir nun innig verstehn, und darum sprechen wir also: 'Hier endlich findet
man den Asketen, findet man den zweiten Asketen, den dritten Asketen und den
vierten Asketen, ohne Verlangen nach Zank und Streit mit anderen Asketen'.
[141]
"Aber es könnte wohl sein, ihr Mönche, daß da andersfährtige
Pilger also sprächen: 'Auch wir, o Brüder, lieben den Meister, und der ist unser
Meister, auch wir lieben die Lehre, und das ist unsere Lehre, auch wir erfüllen
die Regel des Ordens, und das ist unsere Regel, auch uns sind Rechtschaffene
wert und genehm, sowohl weltliche als geistliche; was für eine Beschränkung, ihr
Brüder, was für Eigenart und Verschiedenheit besteht da wohl zwischen euch und
uns?' Auf solche Rede andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre dies zu erwidern:
- 'Was meint ihr, Brüder: ist die Vollkommenheit
einzeln oder ist sie allgemein?' Und die rechte Antwort andersfährtiger
Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Einzeln, ihr Brüder, ist die Vollkommenheit,
nicht ist die Vollkommenheit allgemein.'
- 'Und diese Vollkommenheit Brüder: hat die der
Gierige oder der Gierlose?' 'Und die rechte Antwort andersfährtiger
Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der Gierlose, Brüder, nicht der Gierige.'
- 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die der
Hassende oder der Haßlose?' Und die rechte Antwort andersfährtiger
Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der Haßlose, Brüder, nicht der Hassende.'
- 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die der
Irrende oder der Irrlose?' Und die rechte Antwort andersfährtiger
Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der Irrlose, Brüder, nicht der Irrende.'
- 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die der
noch Begehrende oder der nicht mehr Begehrende?' Und die rechte Antwort
andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der nicht mehr Begehrende,
Brüder, nicht der noch Begehrende.'
- 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die der
noch Anhangende oder der nicht mehr Anhangende?' Und die rechte Antwort
andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der nicht mehr Anhangende,
Brüder, nicht der noch Anhangende.'
- 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die der
Wissende oder der Unwissende?' Und die rechte Antwort andersfährtiger
Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der Wissende, Brüder, nicht der Unwissende.'
- 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die ein
bald Verzückter bald Verstimmter oder ein weder Verzückter noch
Verstimmter?' Und die rechte Antwort andersfährtiger Pilger, ihr Mönche,
wäre: 'Der weder Verzückte noch Verstimmte,
- Brüder, dem Sonderheit behagt und Sonderheit gefällt, oder ist es der, dem keine Sonderheit behagt, keine Sonderheit gefällt?' Und die rechte Antwort andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Dem keine Sonderheit behagt, ihr Brüder, keine Sonderheit gefällt, der ist Vollkommen, und nicht ist es der, dem Sonderheit behagt und Sonderheit gefällt.'
[142]
"Zweierlei Ansichten sind das, ihr Mönche: die Ansicht vom
Dasein und die Ansicht vom Nichtsein.
- Alle die Asketen oder Priester, ihr Mönche,
die der Ansicht vom Dasein zugetan sind, der Ansicht vom Dasein
huldigen, der Ansicht vom Dasein anhängen, die werden durch die
Ansicht des Nichtseins verstimmt.
- Alle die Asketen oder Priester, ihr Mönche,
die der Ansicht vom Nichtsein zugetan sind, der Ansicht vom
Nichtsein huldigen, der Ansicht vom Nichtsein anhangen, die werden
durch die Ansicht des Daseins verstimmt.
- Alle die Asketen oder Priester, ihr Mönche,
die dieser zwei Ansichten Anfang und Ende, Lust und Leid und
Überwindung nicht der Wirklichkeit gemäß verstehn, die gierigen,
hassenden, irrenden, noch durstigen, noch anhangenden, unwissenden,
bald verzückten bald verstimmten, denen Sonderheit behagt und Sonderheit gefällt: die werden nicht erlöst von Geburt, Altern
und Sterben, von Sorge, Kummer und Schmerz, Gram und Verzweiflung,
werden nicht erlöst, sag' ich, vom Leiden.
- Aber alle die Asketen oder Priester, ihr
Mönche, die dieser zwei Ansichten Anfang und Ende, Lust und Leid und
Überwindung der Wirklichkeit gemäß verstehn, die gierlosen,
haßlosen, irrlosen, die nicht mehr durstigen, nicht mehr
anhangenden, wissenden, weder verzückten noch verstimmten, denen keine Sonderheit behagt, keine Sonderheit gefällt: die
werden erlöst von Geburt, Altern und Sterben, von Sorge, Kummer und
Schmerz, Gram und Verzweiflung, werden erlöst, sag' ich, vom Leiden.
[143]
"Vier Arten des Anhangens sind das, ihr Mönche:
- der Hang zur Lust (kāmupādānaṃ)
- der Hang zur Ansicht (diṭṭhupādānaṃ)
- der Hang zu Tugendwerk (sīlabbatupādānaṃ)
- der Hang zur Selbstbehauptung (attavādupādānaṃ)
Es gibt manche Asketen und Priester, ihr Mönche, die sich
fähig erklären, alles Anhangen von Grund aus darzulegen; doch eine solche
Darlegung liefern sie nicht: sie untersuchen den Hang zur Lust, aber nicht den
Hang zur Ansicht, aber nicht den Hang zu Tugendwerk, aber nicht den Hang zur
Selbstbehauptung, und warum nicht? Jene lieben Asketen und Priester haben eben
diese drei Fälle nicht gebührend bedacht und können daher, wenn sie auch meinen,
alles Anhangen von Grund aus zu verstehn, eine solche Untersuchung nicht führen.
Es gibt manche Asketen und Priester, ihr Mönche, die sich
fähig erklären, alles Anhangen von Grund aus darzulegen; doch eine
solche Darlegung liefern sie nicht: sie untersuchen den Hang zur
Lust, untersuchen den Hang zur Ansicht, aber nicht den Hang zu
Tugendwerk, aber nicht den Hang zur Selbstbehauptung, und warum
nicht? Jene lieben Asketen und Priester haben eben diese zwei Fälle
nicht gebührend bedacht und können daher, wenn sie auch meinen,
alles Anhangen von Grund aus zu verstehn, eine solche Untersuchung
nicht führen.
Es gibt manche Asketen und Priester, ihr Mönche, die sich
fähig erklären, alles Anhangen von Grund aus darzulegen; doch eine
solche Darlegung liefern sie nicht: sie untersuchen den Hang zur
Lust, untersuchen den Hang zur Ansicht, untersuchen den Hang zu
Tugendwerk, aber nicht den Hang zur Selbstbehauptung, und warum
nicht? Jene lieben Asketen und Priester haben eben diesen einen Fall
nicht gebührend bedacht und können daher, wenn sie auch meinen,
alles Anhangen von Grund aus zu verstehn, eine solche Untersuchung
nicht führen.
"In einer solchen Heilsordnung, ihr Mönche,
- kann die Liebe zum Meister nicht
vollkommen sein,
- kann die Liebe zur Lehre nicht
vollkommen sein,
- kann die Erfüllung der Regel nicht
vollkommen sein,
- kann die Wert- und Genehmhaltung
Rechtschaffener nicht vollkommen sein,
und warum nicht? Die Sache, ihr Mönche,
verhält sich eben so, wie's zu erwarten ist bei einer schlecht
verkündeten Heilsordnung, bei einer schlecht dargelegten,
abstoßenden, Unruhe schaffenden, die kein vollkommen Erwachter
kundgetan hat.
[144]
"Doch der Vollendete, Mönche, der Heilige, vollkommen
Erwachte erklärt sich fähig, alles Anhangen von Grund aus darzulegen, und er
gibt eine solche Darlegung: er untersucht den Hang zur Lust, er untersucht den
Hang zur Ansicht, er untersucht den Hang zu Tugendwerk, er untersucht den Hang
zur Selbstbehauptung.
"In einer solchen Heilsordnung, ihr Mönche,
- kann die Liebe zum Meister
vollkommen sein,
- kann die Liebe zur Lehre vollkommen
sein,
- kann die Erfüllung der Regel
vollkommen sein,
- kann die Wert- und Genehmhaltung
Rechtschaffener vollkommen sein,
und warum das? Die Sache, ihr Mönche,
verhält sich eben so, wie's zu erwarten ist bei einer wohl
verkündeten Heilsordnung, bei einer wohl dargelegten,
anziehenden, Ruhe schaffenden, die ein vollkommen Erwachter
kund getan hat.
[145]
- "Aber dieses vierfache Anhangen,
ihr Mönche, wo wurzelt das, woraus entspringt es, woraus
entsteht es, woraus erwächst es? Dieses vierfache
Anhangen wurzelt im Durst, entspringt aus dem Durst,
entsteht aus dem Durst erwächst aus dem Durst.
- Und dieser Durst, ihr Mönche, wo
wurzelt der, woraus entspringt er, woraus entsteht er,
woraus erwächst er? Der Durst wurzelt im Gefühl,
entspringt aus dem Gefühl, entsteht aus dem Gefühl,
erwächst aus dem Gefühl.
- Und dieses Gefühl, ihr Mönche,
wo wurzelt das, woraus entspringt es, woraus entsteht
es, woraus erwächst es? Das Gefühl wurzelt in der
Berührung, entspringt aus der Berührung, entsteht aus
der Berührung, erwächst aus der Berührung.
- Und diese Berührung, ihr Mönche,
wo wurzelt die, woraus entspringt sie, woraus entsteht
sie, woraus erwächst sie? Die Berührung wurzelt im
sechsfachen Reich, entspringt aus dem sechsfachen Reich,
entsteht aus dem sechsfachen Reich, erwächst aus dem
sechsfachen Reich.
- Und dieses sechsfache Reich, ihr
Mönche, wo wurzelt das, woraus entspringt es, woraus
entsteht es, woraus erwächst es? Das sechsfache Reich
wurzelt in Bild und Begriff [nāma-rūpa = körperlichem und
geistigem], entspringt aus Bild und
Begriff, entsteht aus Bild und Begriff, erwächst aus
Bild und Begriff.
- Und dieses Bild und Begriff, ihr
Mönche, wo wurzelt das, woraus entspringt es, woraus
entsteht es, woraus erwächst es? Bild und Begriff
wurzelt im Bewußtsein, entspringt aus dem Bewußtsein,
entsteht aus dem Bewußtsein, erwächst aus dem
Bewußtsein.
- Und dieses Bewußtsein, ihr
Mönche, wo wurzelt das, woraus entspringt es, woraus
entsteht es, woraus erwächst es ? Das Bewußtsein wurzelt
in den Unterscheidungen, entspringt aus den
Unterscheidungen, entsteht aus den Unterscheidungen,
erwächst aus den Unterscheidungen.
- Und diese Unterscheidungen, ihr
Mönche, wo wurzeln die, woraus entspringen sie, woraus
entstehn sie, woraus erwachsen sie? Die Unterscheidungen
wurzeln im Nichtwissen, entspringen aus dem Nichtwissen,
entstehn aus dem Nichtwissen, erwachsen aus dem
Nichtwissen.
"Hat nun, ihr Mönche, ein Mönch das Nichtwissen verleugnet
und das Wissen erworben: nichtwissensentfremdet und wissensvertraut haftet er
nicht mehr am Hang zur Lust, nicht am Hang zur Ansicht, nicht am Hang zu
Tugendwerk, nicht am Hang zur Selbstbehauptung. Ohne anzuhangen wird er nicht
erschüttert. Unerschütterlich gelangt er eben bei sich selbst zur Erlöschung.
'Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr
ist diese Welt' versteht er da."
Also sprach der Erhabene. Zufrieden freuten sich jene Mönche über das Wort des
Erhabenen.