UDĀNA

VI. KAPITEL: DIE BLINDGEBORENEN

Ud.VI.1. DIE GEWIRKTE LEBENSENERGIE ENTLASSEN

So hab ich's vernommen: Einstmals weilte der Erhabene bei Vesāli im Großen Wald in der Halle des Giebelhauses. Da erhob sich der Erhabene in der Frühe, nahm Obergewand und Schale und ging nach Vesāli zum Almosengang. Nachdem er in Vesāli um Almosenspeise gegangen war und das Mahl beendet hatte, sprach er zum ehrwürdigen Ānando: "Nimm die Sitzmatte, Ānando. Wir wollen zum Cāpāla-Schrein gehen, um den Tag dort zu verbringen." - "Ja, Herr", antwortete der ehrwürdige Ānando, nahm die Sitzmatte und folgte dem Erhabenen.

Als der Erhabene am Cāpāla-Schrein angekommen war, setzte er sich auf dem zurechtgemachten Sitz nieder und sprach zum ehrwürdigen Ānando: Wie schön ist Vesāli, Ānando. Wie schön ist der Udena-Schrein. Wie schön ist der Gotamaka-Schrein. Wie schön ist der Sattamba-Schrein. Wie schön ist der Bahuputta-Schrein. Wie schön ist der Sārandada-Schrein. Wie schön ist der Cāpāla-Schrein. Von wem die vier Grundlagen der Geistesmacht entfaltet worden sind, häufig erwirkt, gemeistert und verfügbar gemacht [87] worden sind Ānando, verwirklicht, rundum zum Wachsen gebracht, voll einsatzbereit, der kann, wenn er will, ein Weltzeitalter hindurch bestehen oder was vom Weltzeitalter noch übrig ist.[88] Vom Vollendeten aber sind die vier Grundlagen der Geistesmacht entfaltet worden, sind häufig erwirkt, gemeistert und verfügbar gemacht worden, verwirklicht, rundum zum Wachsen gebracht, voll einsatzbereit gemacht worden. Wenn er wollte, könnte der Vollendete, ein Weltzeitalter hindurch bestehen oder was vom Weltzeitalter noch übrig ist."

Obwohl der Erhabene dem ehrwürdigen Ānando einen so massiven Hinweis gegeben, eine so deutliche Sprache [89] gesprochen hatte, war der ehrwürdige Ānando nicht in der Lage, zu begreifen und bat den Erhabenen nicht: "Herr, möge doch der erhabene Herr ein Weltzeitalter lang bestehen, möge doch der Wohlfinder [90] das Weltzeitalter lang bestehen, vielen Wesen zum Segen, vielen Wesen zum Wohl, aus Mitempfinden mit der Welt, zum Heil und Segen und Wohl von Himmelswesen und Menschen", so sehr war er von Māro im Herzen umstrickt.

Noch ein zweites und ein drittes Mal sprach der Erhabene zum ehrwürdigen Ānando: "Wie schön ist Vesāli, Ānando. Wie schön ist der Udena-Schrein. Wie schön ist der Gotamaka-Schrein. Wie schön ist der Sattamba-Schrein. Wie schön ist der Bahuputta-Schrein. Wie schön ist der Sārandada-Schrein. Wie schön ist der Cāpāla-Schrein. Von wem die vier Grundlagen der Geistesmacht entfaltet worden sind, häufig erwirkt, gemeistert und verfügbar gemacht worden sind, Ānando, verwirklicht, rundum zum Wachsen gebracht, voll einsatzbereit gemacht worden sind, der kann, wenn er will, ein Weltzeitalter hindurch bestehen oder was vom Weltzeitalter noch übrig ist. Vom Vollendeten aber sind die vier Grundlagen der Geistesmacht entfaltet worden, häufig erwirkt, gemeistert und verfügbar gemacht, verwirklicht, rundum zum Wachsen gebracht, voll einsatzbereit gemacht worden. Wenn er will, kann der Vollendete, ein Weltzeitalter hindurch bestehen oder was vom Weltzeitalter noch übrig ist."

Aber auch zum zweiten und dritten Mal war der ehrwürdige Ānando nicht in der Lage, zu begreifen und bat den Erhabenen nicht: "Herr, möge doch der Herr ein Weltzeitalter lang bestehen, möge doch der Erhabene ein Weltzeitalter lang bestehen, vielen Wesen zum Segen, vielen Wesen zum Wohl, aus Mitempfinden mit der Welt, zum Heil und Segen und Wohl von Himmelswesen und Menschen", so sehr war er von Māro im Herzen umstrickt. Da sprach der Erhabene zum ehrwürdigen Ānando: "Du kannst jetzt gehen, wenn es dir recht ist." - "Ja, Herr", sprach der ehrwürdige Ānando zum Erhabenen, erhob sich von seinem Sitz, grüßte den Erhabenen mit gefalteten Händen, umschritt ihn nach rechts und setzte sich in der Nähe unter einen Baum. -

Gleich nachdem der ehrwürdige Ānando gegangen war, erschien Māro, der Böse, beim Erhabenen und stellte sich seitwärts. Seitwärts stehend sprach Māro, der Böse, zum Erhabenen: "Jetzt gehe in die vollkommene Erlöschung ein, erhabener Herr, jetzt gehe in die vollkommene Erlöschung ein; die Zeit ist gekommen, erhabener Herr, in die vollkommene Erlöschung einzugehen. Der erhabene Herr hat doch gesagt: 'Ich werde so lange nicht in die vollkommene Erlöschung eingehen, als mir nicht Mönche, Nonnen, häuslich lebende Anhänger und Anhängerinnen zu Nachfolgern herangewachsen sind, die Erfahrung haben, ausgebildet sind, [91] zu innerer Sicherheit herangereift, geborgen in der Befreiung vom Mühen, wohlbewandert, Träger der Wahrheit, die die Lehre gelebt haben, [92] richtig vorgegangen sind, den lehrgemäßen Wandel führend und, nachdem sie bei sich selber Meister über die Lehre geworden sind, sie verkünden, aufzeigen, verständlich machen, darstellen, offenbar machen, ausführlich erklären, klarmachen können, in der Lage sind, einen von anderen vorgebrachten Einwand nach der Lehre wohlbegründet abweisen zu können und die wunderbare Lehre lehren können' - Heutzutage, Herr, sind beim Erhabenen Mönche, Nonnen, häuslich lebende Anhänger und Anhängerinnen zu Nachfolgern herangewachsen, die Erfahrung haben, ausgebildet sind, zu innerer Sicherheit herangereift, geborgen in der Befreiung vom Mühen, wohlbewandert, Träger der Wahrheit, die die Lehre gelebt haben, richtig vorgegangen sind, den lehrgemäßen Wandel führend und, nachdem sie bei sich selber Meister über die Lehre geworden sind, sie verkünden, aufzeigen, verständlich machen, darstellen, offenbar machen, ausführlich erklären, klarmachen können, die in der Lage sind, einen von anderen vorgebrachten Einwand nach der Lehre wohlbegründet abweisen zu können und die wunderbare Lehre lehren können. Gehe nun in die vollkommene Erlöschung ein, erhabener Herr, gehe nun in die vollkommene Erlöschung ein, die Zeit ist gekommen, erhabener Herr; in die vollkommene Erlöschung einzugehen! Der erhabene Herr hat doch gesagt: '1ch werde so lange nicht in die vollkommene Erlöschung eingehen, du Böser, als bei mir nicht dieser Brahmawandel blüht und gedeiht, sich verbreitet, vielen bekannt ist, bei Göttern und Menschen allgemein zugänglich wohldargelegt ist. Heute nun aber, Herr, blüht und gedeiht dieser Brahmawandel, verbreitet sich, ist vielen bekannt bei Göttern und Menschen, allgemein zugänglich, wohldargelegt. Gehe nun in die vollkommene Erlöschung ein, erhabener Herr, gehe nun in die vollkommene Erlöschung ein, die Zeit ist gekommen, erhabener Herr; in die vollkommene Erlöschung einzugehen!"

Auf diese Worte antwortete der Erhabene Māro, dem Bösen: "Mache dir keine Sorgen, Böser. Es wird nicht mehr lange dauern bis zum vollkommenen Erlöschen des Vollendeten: Heute in drei Monaten wird der Vollendete in die vollkommene Erlöschung eingehen." So entließ der Erhabene beim Cāpālaschrein in Wahrheitsgegenwart, klar bewußt, die gewirkte Lebensenergie.[93] Und als vom Erhabenen die Lebensenergie entlassen worden war, ließ ein gewaltiges Beben und ein furchtbarer, markerschütternder Donnerschlag die Erde erzittern; die Pauken der Götter brachen los.

Aus diesem Anlaß tat der Erhabene aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Den Quell von 'Meßbar' und von 'Unermeßlich':
das Daseinwollen gab der Stille auf.
Beseligt innen und in Frieden einig,
sprengt' er das Panzerhemd 'Persönlichkeit'."     D.16.3.1


[87] vatthu-kata = wörtlich: zur Grundlage, "zu eigen" gemacht

[88] kappa-avasesa = Weltzeitalter-Rest [Lebenszeitalter-Rest, siehe kappa, und Note 25 in A.viii.70. WG]

[89] darike nimitte, olārike obhāse

[90] Su-gata -wörtlich: der Wohl-Gegangene - bedeutet: Selber zum Wohl gelangt und den anderen Wesen zum Wohl gekommen, "zum Wohl und Heil der ganzen Welt", wie oft gesagt wird. Da er auf diesem Gang eben das gefunden hat, was durch keine Theorie, sondern nur "auf dem Wege zu finden ist": - auf dem Wege über Tugend - Herzenseinigung - Klarwissen, scheint mir "Wohlfinder" eine umfassendere Übersetzung für diesen dreifachen Sinn zu sein als die gebräuchliche Übersetzung "der Willkommene".

[91] vinīta = "erzogen"

[92] dhamm-anu-dhamma-patipanna = wörtlich: der Lehre entlang der Lehre nachgefolgt

[93] Āyu-sankhāra wird meist mit "Lebenskraft" übersetzt, was bei ungenauer Berücksichtigung der Quellen manchmal zu grundlosen Spekulationen über eine geheimnisvolle biologische oder physikalische oder göttliche oder kosmische Kraft verleiten könnte. Āyu kommt von Sanskrit āyus, entsprechend dem griechischen aion (Äon) und dem lateinischen aevum (Ewigkeit und Alter). Im Pāli heißt es zunächst ganz wörtlich "eben." Dahinter steckt der unerreichbare - im Grund primitive - Strebensinhalt, daß es einfach immer irgendwie weitergehen möge - der Daseinsdrang (Nietzsche: "...denn alle Lust will Ewigkeit..."): der "Lebenswille" (bhava-tanhā). Der ist bei einem Geheilten mit dem Erwachen bereits zu Lebzeiten aufgehoben. Der ganze zur Werkzeugsteuerung noch vorhandene Wille beschränkt sich bei ihm auf das friedvoll geduldige, losgelöste Abtragen des Körpers, weil der Körper des total Wunschlosen keinerlei Bedürfnisse mehr zu befriedigen hat.

Die hier gewählte Übersetzung "gewirkte Lebensenergie" für āyu-sankhāra soll durch Berücksichtigung des zweiten Wortbestandteiles deutlich machen, daß es sich nicht um irgendeine "esoterische" Kraft handelt, sondern schlicht um die durch das gewirkt wirkende Wirken ("sankhāra") in den drei ersten Wirkensarten bis zur Erwachung angesammelte Energie. Wenn die der Erwachte hier klar bewusst "entließ", so war das, wie wenn jemand mit einer Wanne voll Brackwasser sich entschließt, von weiteren noch möglichen Maßnahmen abzusehen, den vor sich hinrostenden Stöpsel für eine weitere, begrenzte Zeit noch einmal abzudichten, so daß das Brackwasser jetzt schon frei abfließen kann.  Beschreibung des gleichen Ablaufs wie Ud.VI.1 vgl. auch D.16.III, A.VIII.70 und S.51.10.

Auch ein Vollendeter erlebt einst vor dem Erwachen Zusammengehäuftes, insbesondere den Körper, aber als Losgelöster: Der Ablauf dieses Überrests kann seinen heilen Stand absoluter Freiheit nicht mehr beeinflussen (an-āsava); aber aus Mitempfinden, um die an ihn ständig herantretenden Bitten um Belehrung nicht abweisen zu müssen, hat der Erwachte den gesetzmäßig so oder so seinem Verfall zugehenden Körper noch gepflegt und ernährt. Nun setzte er auch für diese letzten "Instandhaltungsmaßnahmen" einen Endtermin, mit dem auch dieser letzte "Überrest" sich lösen und "Nirvāna ohne Überrest" (an-upadisesa nibbāna) auf ewig erreicht sein würde.


Ud.VI.2. DIE FLECHTENTRÄGER [95]

So hab ich's vernommen: Einstmals weilte der Erhabene in Sāvatthī im Ostkloster auf Mutter Migāros Terrasse. In der Morgenfrühe erhob sich der Erhabene und setzte sich vor das Tor. Da erschien König Pasenadi von Kosalo vor dem Erhabenen, begrüßte den Erhabenen ehrerbietig und setzte sich seitwärts. Gerade in diesem Augenblick gingen sieben Flechtenträger, sieben Freie Brüder, sieben Unbekleidete, sieben Eingewand-Träger und sieben Hauslose mit langgewachsenen Haaren und Nägeln mit Tragstange und Tragkorb in der Nähe des Erhabenen vorbei. König Pasenadi sah diese Pilger, und als er sie gesehen hatte, stand er auf, ordnete das Obergewand über der rechten Schulter, ließ sich mit dem rechten Knie auf die Erde nieder, beugte das Knie, erhob die gefalteten Hände in die Richtung der fünfmal sieben Pilger und nannte dreimal seinen Namen: "Ihr Herren, ich bin König Pasenadi von Kosalo." Gleich nachdem die Pilger weitergegangen waren, kam König Pasenadi von Kosalo wieder zum Erhabenen, grüßte den Erhabenen ehrerbietig und setzte sich seitwärts. Seitwärts sitzend, sprach König Pasenadi von Kosalo zum Erhabenen: "Herr, gehören die zu denen, die in der Welt Geheilte sind oder den Weg zum Heilsstand betreten haben?" - "Für dich, großer König, der du im Hause lebst, im Genuß reichlicher Sinnendinge, im Gewühl von Kindern, Benareser Sandelholz verwendest, dich schmückst, parfümierst und salbst, dich an Gold und Silber freust, ist es schwer zu erkennen, ob das Geheilte sind oder ob sie den Weg zum Heilsstand betreten haben.

Im Zusammenleben, großer König, ist ihre Tugend zu erkennen - aber auch das nur nach langer Zeit, auf keine andere Weise, und nur von einem, der genau darauf achtet, nicht von einem oberflächlichen Beobachter und nur von einem Klarsehenden, nicht von einem, der nicht klar sieht.

In den Wechselfällen des Lebens, großer König, ist Ihre Standhaftigkeit zu erkennen, aber auch das nur nach langer Zeit, auf keine andere Weise, und nur von einem, der genau darauf achtet, nicht von einem oberflächlichen Beobachter, und nur von einem Klarsehenden, nicht von einem, der nicht klar sieht.

Im Gespräch, großer König, ist Ihre Weisheit zu erkennen, aber auch das nur nach langer Zeit, auf keine andere Weise und nur von einem, der genau darauf achtet, nicht von einem oberflächlichen Beobachter, und nur von einem Klarsehenden, nicht von einem, der nicht klar sieht."

"Wunderbar, Herr, unvergleichlich, Herr, wie treffend der Erhabene das gesagt hat. - Ich habe da meine Kundschafter und Spitzel, die im Land Nachrichten sammeln. Auf das, was sie ausgekundschaftet haben, gründe ich dann meine Entscheidungen. Jene dort, Herr, werden sich den Staub abputzen und fein gebadet und gesalbt in weißen Kleidern sich mit den fünf Sinnengenüssen vergnügen."

Aus diesem Anlaß tat der Erhabene aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Man sei nicht hinter allem her,
sei keines anderen Diene leb'
auf keinen anderen gestützt,
mach' aus der Lehre kein Geschäft!"


[95] auch berichtet in S.3.11, aber mit einem anderen Vers


Ud.VI.3. RÜCKBLICK [96]

So hab ich's vernommen: Einstmals weilte der Erhabene in Sāvatthī im Jetahain im Kloster Anāthapindikos. Zu jener Zeit saß der Erhabene da und führte sich seine einstigen mannigfachen üblen heilsuntauglichen Eigenschaften vor Augen, die ausgetilgt waren und die vielen heilstauglichen Eigenschaften, die durch Entfaltung zur Vollendung gebracht worden waren. Als der Erhabene so die verschiedenen üblen, heilsuntauglichen Eigenschaften ausgetilgt und die verschiedenen heilstauglichen Eigenschaften durch Entfaltung zur Vollendung gebracht sah, da tat der Erhabene aus diesem Anlaß aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Erst gab's das, dann gab's es nicht mehr.[97]
Erst gab's es nicht, nachher gab's es' -[98]
Jetzt gilt kein 'das gab's', 'das wird sein'
und heute existiert [99] nichts mehr. "[100]


[96] Vgl. auch Thag 180 und S.22.55

[97] Einst (vor dem Erwachen) "gab es das" - nämlich die aus Wahnwissen, statt auf Auflösung, auf Weiterwerden gerichteten und deshalb untauglichen Eigenschaften. Nach Auflösung durch Gehen des Achtpfades gab es die untauglichen Eigenschaften und Wirkensweisen nicht mehr.

[98] Vor dem Erwachen gab es diese vollkommenen Eigenschaften der Auflösung noch nicht. Nach dem Erwachen waren sie durch Loslassen, Auflösen, endgültig errungen: nichts war mehr, das nicht einzig auf Auflösung, totalen Frieden, absolute Freiheit gerichtet war (nibbāna-ninna). Die 45 Jahre des Lehrens waren eine Fülle des Wirkens, aber nur noch in der vierten Wirkensweise, nämlich in der Absicht, den Wesen zu helfen, Leiden aufzulösen.

[99] Vijjati = "wird gefunden"

[100] Solange der spätere Buddha vor dem Erwachen noch an der Auflösung von heilsuntauglichen - "wiederdaseinsäenden" - Eigenschaften und Wirkensweisen und an der Ausbildung und Vervollkommnung von heilstauglichen - auf Auflösung gerichteten - zu arbeiten hatte, empfand er noch diese Eigenschaften wie ein "Ich- Selbst", so als "gingen sie 'ihn' noch etwas an". Mit dem Durchbruch durch die "Eierschale des Wahnwissens" durchschaute der Erwachte alle Erscheinungen als ohne Bestand (a-nicca), leidig (dukkha), kernlos (anatta), also ohne wahre Existenz, so massiv sie vorher auch erlebt worden waren.


Ud.VI.4. ANGEHÖRIGE VERSCHIEDENER SCHULEN (1)

So hab ich's vernommen: Einstmals weilte der Erhabene in Sāvatthī im Jetahain im Kloster Anāthapindikos. Zugleich hielt sich gerade eine große Schar von hauslosen Pilgern und Brahmanen anderer Schulen als Almosenempfänger um Sāvatthī auf. Die hatten verschiedene Ansichten, verschiedenen Glauben, verschiedene Richtungen, und sie klammerten sich an ihre verschiedenen Ansichten.

Sie waren in Streit, Disput, Wortgefechte versunken und verletzten einander dauernd mit scharfen Worten: "Das ist die Wahrheit, nicht so ist die Wahrheit" - "Nein, das ist nicht die Wahrheit: So ist die Wahrheit!"

Da erhob sich eine große Schar von Mönchen in der Frühe, nahm Obergewand und Schale und ging zum Almosengang nach Sāvatthī. Nach dem Almosengang, nachdem sie das Mahl eingenommen hatten, begaben sie sich zum Erhabenen, begrüßten den Erhabenen ehrerbietig und setzten sich seitwärts. Seitwärts sitzend berichteten sie dem Erhabenen: "Da hält sich eine große Schar von hauslosen Pilgern und Brahmanen anderer Schulen als Almosenempfänger um Sāvatthī auf Die haben verschiedene Ansichten, verschiedenen Glauben, verschiedene Richtungen und klammern sich an ihre verschiedenen Ansichten. Die sind in Streit, Disput, Wortgefechte versunken und verletzen einander dauernd mit scharfen Worten: 'Das ist die Wahrheit, nicht so ist die Wahrheit' - 'Nein, das ist nicht die Wahrheit: So ist die Wahrheit!'" –

"Diese Pilger anderer Schulen, ihr Mönche, sind blind, augenlos, sehen nicht, was Sinn und Unsinn ist, sehen nicht, was Wahrheit und Unwahrheit ist. Weil sie nicht sehen, was Sinn und Unsinn ist, was Wahrheit und Unwahrheit ist, deshalb sind sie in Streit, Disput, Wortgefechte versunken und verletzen einander dauernd mit scharfen Worten: 'Das ist die Wahrheit, nicht so ist die Wahrheit' - 'Nein, das ist nicht die Wahrheit: So ist die Wahrheit!' –

Einstmals, Mönche, lebte einmal hier in Sāvatthī ein König. Der befahl einem Mann: 'Geh, lieber Mann, und wo du in Sāvatthī von Geburt Blinde findest, da laß sie alle an einem Platz zusammenkommen.' 'Jawohl, Majestät', antwortete der Mann dem König gehorsam, versammelte alle Blindgeborenen von Sāvatthī, begab sich zum König und meldete: 'Alle von Geburt Blinden aus Sāvatthī sind versammelt.' - 'Gut, dann laß den Blinden einen Elefanten vorführen.' - 'Jawohl, Majestät', sprach der Mann zum König und ließ den Blinden einen Elefanten vorführen: 'Das, ihr Blinden, ist ein Elefant.' Einigen der Blindgeborenen führte er den Kopf des Elefanten vor: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen ein Ohr: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen einen Stoßzahn: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen den Rüssel: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen den Rumpf: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen einen Fuß: 'Das ist ein Elefant. ihr Blinden', anderen das Hinterteil: 'Das ist ein Elefant. ihr Blinden', anderen den Schwanz: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen die Schwanzquaste: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden.'

Nachdem der Mann den Blindgeborenen den Elefanten vorgeführt hatte, ging er zum König und sprach zu ihm: 'Majestät: ich habe den Blindgeborenen den Elefanten vorgeführt; tu, was dir nun recht ist' Da begab sich der König zu den Blinden und sprach zu ihnen: 'Ihr habt einen Elefanten erlebt, ihr Blinden?' - 'So ist es, Majestät. Wir haben einen Elefanten erlebt.' - 'Nun sagt mir, ihr Blinden: Was ist denn ein Elefant?' Da antworteten die Blindgeborenen, die den Kopf zu fassen bekommen hatten: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Kessel'; die das Ohr zu fassen bekommen hatten, antworteten: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Worfelkorb';[102] die einen Stoßzahn zu fassen bekommen hatten, antworteten: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie der Stock eines Pfluges';[103] ein anderer, der den Rüssel erwischt hatte, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Pflugbaum'; ein anderer, der an den Rumpf gekommen war, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie eine Vorratstonne'; ein weiterer, der einen Fuß berührt hatte, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Pfosten'; der nächste, der das Hinterteil betastet hatte, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Mörser'; wieder einer, der an den Schwanz geraten war, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie der Stößel'; ein anderer, der die Schwanzquaste angefaßt hatte, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Besen.' Und so prügelten sie aufeinander mit den Fäusten ein: 'So ist ein Elefant, nicht so! - Nein, so ist ein Elefant nicht; so ist er', und der König hatte seinen Spaß. Ebenso, Mönche, sind diese Pilger anderer Schulen blind, augenlos, sehen nicht, was Sinn und Unsinn ist, sehen nicht, was Wahrheit und Unwahrheit ist. Weil sie nicht sehen, was Sinn und Unsinn ist, was Wahrheit und Unwahrheit ist, deshalb sind sie in Streit, Disput, Wortgefechte versunken und verletzten einander dauernd mit scharfen Worten: 'Das ist die Wahrheit, nicht das', - 'nein, das ist nicht die Wahrheit: So ist die Wahrheit!'"

Aus diesem Anlaß tat der Erhabene aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Daran nun eben hängen sie,
die Pilger oder Geistlichen;
da disputieren, streiten sie,
als Menschen, die nur Teile seh'n."


[101] wörtlich: "Was Leben ist, das ist der Leib"

[102] flacher Korb, mit dem man Getreide gegen den Wind hochwarf, damit Hülsen und Spelze weggeweht wurden (in der hiesigen Landwirtschaft nahm man dafür eine besondere Schaufel)

[103] Der Ausdruck "Pflugschar" paßt hier nicht: Es dürfte sich um einen hölzernen Pflug (Hakenpflug) gehandelt haben, der nicht Schollen wenden konnte, wie eine Pflugschar, sondern den Boden nur mit einem an einem Stock befestigten Stein aufritzte.


Ud.VI.5. ANGEHÖRIGE VERSCHIEDENER SCHULEN (2)

So hab ich's vernommen: Einstmals weilte der Erhabene in Sāvatthī im Jetahain im Kloster Anāthapindikos. Zugleich hielt sich eine große Schar von hauslosen Pilgern und Brahmanen anderer Schulen als Almosenempfänger um Sāvatthī auf. Die hatten verschiedene Ansichten, verschiedenen Glauben, verschiedene Richtungen, und sie klammerten sich an ihre verschiedenen Ansichten.

Sie waren in Streit, Disput, Wortgefechte versunken und verletzten einander dauernd mit scharfen Worten: "Das ist die Wahrheit, nicht so ist die Wahrheit" - "Nein, das ist nicht die Wahrheit: So ist die Wahrheit!"

Da erhob sich eine große Schar von Mönchen in der Frühe, nahm Obergewand und Schale und ging zum Almosengang nach Sāvatthī. Nach dem Almosengang, nachdem sie das Mahl eingenommen hatten, begaben sie sich zum Erhabenen, begrüßten den Erhabenen ehrerbietig und setzten sich seitwärts. Seitwärts sitzend berichteten sie dem Erhabenen über den Streit der Pilger und Brahmanen anderer Schulen.

"Diese Pilger anderer Schulen, ihr Mönche, sind blind, augenlos, sehen nicht, was Sinn und Unsinn ist, sehen nicht, was Wahrheit und Unwahrheit ist. Weil sie nicht sehen, was Sinn und Unsinn ist, was Wahrheit und Unwahrheit ist, deshalb sind sie in Streit, Disput, Wortgefechte versunken und verletzen einander dauernd mit scharfen Worten: 'Das ist die Wahrheit, nicht so ist die Wahrheit' - 'Nein, das ist nicht die Wahrheit: So ist die Wahrheit!'"

Aus diesem Anlaß tat der Erhabene aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Daran nun eben hangen sie,
die Pilger oder Geistlichen;
versinken mitten in dem Strom,
münden nicht in das Sichre [104] ein."


[104] ogadha = eigentlich "eintauchen", wird aber fast nur für das Einmünden in das Todlose, das Nirvāna benutzt, s. PTS unter ogadha, vgl. auch ogādha2 = fester Grund


Ud.VI.6. ANGEHÖRIGE VERSCHIEDENER SCHULEN (3)

(wortgleich mit Ud.VI.5 außer am Ende:)

"Dies Geschlecht hält an der Vorstellung von einem wirkenden 'Ich' [ahan-kāra] fest, begleitet von der Vorstellung von wirkenden Andern. Weil sie das nicht kennen und durchschauen, haben sie nicht gesehen, dass dies der Pfeil ist. Aber wer gesehen hat, dass dies durch den Pfeil bedingt ist, hat nicht den Gedanken: Ich bin's der wirkt' noch den Gedanken: Ein anderer ist's, der wirkt.'"

Aus diesem Anlaß tat der Erhabene aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Ich-bin-besessen dies Geschlecht,
ich-bin-verknotet, ich-verstrickt.
Ansichtversessen ringt es sich
nicht aus dem Werdekreislauf frei."


Ud.VI.7. SUBHÚTI

So hab ich's vernommen: Einstmals weilte der Erhabene in Sāvatthī im Jetahain im Kloster Anāthapindikos. Damals hatte sich der ehrwürdige Subhūti [106] in der Nähe des Erhabenen mit gekreuzten Beinen niedergesetzt, den Körper gerade aufgerichtet, und hatte eine vorstellungslose Einung erreicht. Der Erhabene sah den ehrwürdigen Subhūti in der Nähe sitzen, mit gekreuzten Beinen, den Körper gerade aufgerichtet, in vorstellungsloser Einung. [avitakka samādhi]

Aus diesem Anlaß tat der Erhabene aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Bei wem Gedanken [108] gänzlich ausgequalmt,
das Inn're ohne Rest zur Ruh' gebracht,
dies Band gelöst, formfrei die Wahrnehmung, [arūpasaññī]
vier Joche [110] los - nie wird er mehr geboren."


[106] der jüngere Bruder Anāthapindikos (Proper Names S. 1235)

[108] vitakka = jedes Denken und Vorstellen. Seidenstücker übersetzt daher richtig "Vorstellung".

[110] Sinnenjoch, Daseinsjoch, Ansichtenjoch, Wahnwissensjoch


Ud.VI.8. DIE KURTISANE

So hab ich's vernommen: Einstmals weilte der Erhabene bei Rājagaha im Bambuspark am Futterplatz der Eichhörnchen. Zu der Zeit waren zwei Zünfte verschossen in eine Kurtisane und verrückt nach ihr. Sie hatten Krach, Zank und Streit und gingen mit Fäusten, Erdklumpenwerfen, Stöcken und Waffen aufeinander los, dass es Tote gab oder lebensgefährliche Verletzungen. Da erhob sich eine große Schar von Mönchen in der Frühe, nahm Obergewand und Schale und ging zum Almosengang nach Rājagaha. Nach dem Almosengang, nachdem sie das Mahl eingenommen hatten, begaben sie sich zum Erhabenen, begrüßten den Erhabenen ehrerbietig und setzten sich seitwärts. Seitwärts sitzend berichteten sie dem Erhabenen über den Streit der Zünfte.

Aus diesem Anlaß tat der Erhabene aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Was da erreicht ward oder wird, ist beides
verseucht für den, der - Kranker Vorbild folgend [111] -
Übung als Selbstzweck ansieht [112] und Verhaltensweisen,
Asketenleben als den Kern betrachtet.


Das ist nur ein Extrem. Das andre ist,
behaupten, meinen, Sinnlichkeit sei harmlos.
Aus diesen zwei Extremen brennt der Leichenbrand;
der Leichenbrand läßt immer Ansicht wachsen.


Wer die Extreme nicht durchschaut, der bleibt
an ihnen kleben oder geht zu weit.
Wer sie mit unbeschränktem Blick durchschaut,
hat damit nichts zu tun, denkt nichts zusammen.
Kein Weiterkreisen gibt es mehr für ihn."


[111] atūrass’anusikkhato: für den Krankem entlang Übenden

[112] Also gilt nicht "der Weg ist das Ziel"!


Ud.VI.9. DIE INSEKTEN

So hab ich's vernommen: Einstmals weilte der Erhabene in Sāvatthī im Jetahain im Kloster Anāthapindikos. Damals saß der Erhabene in stockdunkler Nacht im Freien beim Schein von Öllampen. Da verunglückten viele Insekten, die die Öllampen umschwärmten, und kamen ums Leben. Der Erhabene sah, wie da viele Insekten, die die Öllampen umschwärmten, verunglückten und ums Leben kamen.

Aus diesem Anlaß tat der Erhabene aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Sie schwirren her, sie treffen keinen Kern
und schaffen eine Bande nach der andern.
Wie Motten in die Lampenlichter fallen,
sind sie Gesehenem, Gehörtem ganz verfallen."


Ud.VI.10. DAS ERSCHEINEN VON VOLLENDETEN

So hab ich's vernommen: Einstmals weilte der Erhabene in Sāvatthī. Da begab sich der ehrwürdige Ānando zum Erhabenen, begrüßte den Erhabenen ehrerbietig und setzte sich seitwärts. Seitwärts sitzend sprach der ehrwürdige Ānando zum Erhabenen: "Herr, solange keine Vollendeten in der Welt erscheinen, keine Geheilten, Vollkommen Erwachten, werden die Hauslosen anderer Schulen anerkannt, geschätzt, verehrt, geachtet, mit Aufmerksamkeiten bedacht und erhalten Kleidung, Speis und Trank, Lagerstatt und Arznei für den Fall der Krankheit. Aber wenn Vollendete in der Welt erscheinen, Geheilte, Vollkommen Erwachte, dann werden die Hauslosen anderer Schulen nicht mehr anerkannt, geschätzt, verehrt, geachtet, werden nicht mehr mit Aufmerksamkeiten bedacht und erhalten nicht mehr Kleidung, Speis und Trank, Lagerstatt und Arznei für den Fall der Krankheit. Heutzutage, Herr, wird der Erhabene anerkannt, geschätzt, verehrt, geachtet, mit Aufmerksamkeiten bedacht und erhält Kleidung, Speis und Trank, Lagerstatt und Arznei für den Fall der Krankheit und auch der Mönchsorden." - "So ist es, Ānando: solange keine Vollendeten in der Welt erscheinen, keine Geheilten, Vollkommen Erwachten, werden die Hauslosen anderer Schulen anerkannt, geschätzt, verehrt, geachtet, mit Aufmerksamkeiten bedacht und erhalten Kleidung, Speis und Trank, Lagerstatt und Arznei für den Fall der Krankheit. Aber wenn Vollendete in der Welt erscheinen, Geheilte, Vollkommen Erwachte, dann werden die Hauslosen anderer Schulen nicht mehr anerkannt, geschätzt, verehrt, geachtet, werden nicht mehr mit Aufmerksamkeiten bedacht und erhalten nicht mehr Kleidung, Speis und Trank, Lagerstatt und Arznei für den Fall der Krankheit. Heutzutage, wird der Vollendete anerkannt, geschätzt, verehrt, geachtet, mit Aufmerksamkeiten bedacht und erhält Kleidung, Speis und Trank, Lagerstatt und Arznei für den Fall der Krankheit und auch der Mönchsorden."

Aus diesem Anlaß tat der Erhabene aus seiner Schau folgenden Ausspruch:

"Ein Glühwurm leuchtet nur, solange nicht
des Taggestirnes Strahlen aufgegangen,
Wenn Tageshelle angebrochen ist,
erlischt sein Glühen; er hört auf zu leuchten.
So ist's auch mit der andern Pilger Leuchten,
wenn ein Vollendeter die Welt erhellt:
Klügler und Ihre Schüler glänzen nicht:
Wer falsch sieht, der wird nicht vom Leid erlöst."


 Home Oben Zum Index Zurueck Voraus