Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

447. Die große Erzählung von Dhammapala (Maha-Dhammapala-Jātaka) [1]

„Wie ist dein Leben, wie dein heil'ger Wandel“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er bei seiner ersten Reise nach Kapilavatthu gezogen war [2] und im Nigrodha-Haine verweilte, im Palast seines Vaters mit Beziehung auf das Nichtglauben des Königs. Damals nämlich hatte der Großkönig Suddhodana dem von zwanzigtausend Mönchen umgebenen Erhabenen in seinem Palast Reisschleim und Kuchen gespendet und während des Mahles zur Unterhaltung gesagt: „Herr, zur Zeit Eures Ringens kamen Gottheiten und verkündeten mir, in der Luft stehend: ‘Dein Sohn, der Prinz Siddhattha, ist infolge seines Mangels an Nahrungsaufnahme gestorben.’“ Als dann der Meister fragte: „Glaubtest du dies, o Großkönig?“, antwortete er: „Ich glaubte es nicht, Herr, sondern ich wies die Gottheiten, obwohl sie in der Luft stehend mir dies erzählten, zurück mit den Worten: ‘Es ist nicht möglich, dass mein Sohn zum völligen Nirvana eingeht, bevor er am Fuße des Bodhi-Baumes zum Buddhatum gelangt ist [3].’“ Darauf sprach der Meister: „O Großkönig, früher hast du zur Zeit des großen Dhammapala, als ein weltberühmter Lehrer dir sagte, dein Sohn sei gestorben, und dir sogar seine Gebeine zeigte, diesem nicht geglaubt, sondern du sagtest: ‘In unserer Familie gibt es nicht den Tod in der Jugend.’ Warum hättest du also jetzt glauben sollen?“ Nach diesen Worten erzählte er auf die Bitte des Königs folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, gab es im Reiche Kasi ein Dorf namens Dhammapala; dieses hatte seinen Namen davon, weil die Familie Dhammapala dort wohnte. Dort wohnte ein Brahmane, der wegen seiner Beobachtung der zehn Wege tugendhaften Handelns [4] unter dem Namen Dhammapala (= Tugendbewahrer) bekannt war. In dieser Familie gab man allgemein, auch die Sklaven und Dienstboten, Almosen, man beobachtete die Gebote und hielt die Uposatha-Bestimmungen. — Damals nahm der Bodhisattva in dieser Familie seine Wiedergeburt; man gab ihm den Namen Jung-Dhammapala [Dhammapala-kumāra]. Als er herangewachsen war, gab ihm sein Vater tausend Goldstücke mit und schickte ihn nach Takkasilā, um die Wissenschaften zu erlernen. Er begab sich dorthin und erlernte bei einem weltbekannten Meister die Wissenschaft; unter fünfhundert jungen Brahmanen war er der erste Schüler.

Damals starb der älteste Sohn des Lehrers. Umgeben von den jungen Brahmanen verbrannte er mit der Schar seiner Verwandten weinend auf dem Leichenfelde dessen Leichnam. Dabei weinten und klagten der Lehrer sowohl wie die Schar seiner Verwandten wie auch seine Schüler; Dhammapala allein weinte und klagte nicht. Als dann die fünfhundert Brahmanenjünglinge vom Leichenfelde zurückgekehrt sich in die Nähe ihres Lehrers setzten, sagten sie: „Ach, ein solch tugendhafter junger Brahmane wurde noch in seiner Jugend von seinen Eltern getrennt und musste sterben.“ Jener aber sprach: „Ihr Freunde, ihr redet immer von der Jugend. Warum aber ist er noch in seiner Jugend gestorben? Ungeziemend ist es, in der Jugend zu sterben.“

Da erwiderten sie ihm: „Wie aber, Freund, kennst du nicht die Notwendigkeit des Todes für diese Wesen?“ Er antwortete: „Ich kenne sie; in der Jugend aber stirbt man nicht, sondern erst in der Zeit des Alters stirbt man.“ „Sind nicht alle erschaffenen Dinge dem Verfall unterworfen und unbeständig?“ „Gewiss sind sie unbeständig; in der Jugend aber sterben die Wesen nicht, sondern erst im Alter gelangen sie zum Verfall.“ „Wie aber, Freund Dhammapala, sterben in eurem Hause die Leute nicht?“ „In ihrer Jugend sterben sie nicht; erst im Alter sterben sie.“ „Ist dies aber in eurem Hause so der Brauch?“ „Ja, es ist in unsrer Familie so der Brauch“, versetzte der Bodhisattva.

Die jungen Brahmanen aber meldeten dem Lehrer diese seine Rede. Dieser ließ ihn zu sich kommen und fragte: „Ist es denn wahr, lieber Dhammapala, dass in eurer Familie die Leute in der Jugend nicht sterben?“ „Es ist wahr, Meister“, war die Antwort. Als nun jener seine Worte vernahm, dachte er: „Dieser sagt etwas gar Wunderbares. Ich will zu seinem Vater hingehen und ihn fragen. Wenn dies wahr ist, werde auch ich diese Tugend erfüllen [5].“

Nachdem er seinem Sohne noch die letzten Ehren erwiesen, ließ er nach Verlauf von sieben oder acht Tagen den Dhammapala zu sich rufen und sprach zu ihm: „Mein Sohn, ich will verreisen; bis ich wiederkomme, unterrichte du diese Jünglinge in der Wissenschaft!“ Darauf nahm er die Knochen eines Hirsches, wusch und parfümierte sie und tat sie in einen Korb; dann zog er mit einem kleinen Diener aus Takkasilā fort. Allmählich kam er in jenes Dorf. Hier fragte er, wo das Haus des großen Dhammapala sei, ging hin und stellte sich an die Tür. Wer immer von den Dienern des Brahmanen ihn zuerst sah, der nahm dem Lehrer den Sonnenschirm aus der Hand, nahm ihm die Schuhe ab und ergriff den Korb aus der Hand des Dieners. Als er ihnen sagte: „Meldet dem Vater des Jünglings, der Lehrer seines Sohnes, des jungen Dhammapala, sei gekommen“, antworteten sie: „Gut“, und meldeten es. Rasch kam ihr Herr vorn an das Haustor, führte ihn mit den Worten: „Kommt hierher“, in das Haus hinein, ließ ihn auf einem Polster Platz nehmen, wusch ihm die Füße und erwies ihm alle anderen Liebesdienste.

Als nun der Lehrer nach der Mahlzeit in fröhlichem Geplauder dasaß, sagte er: „Brahmane, dein Sohn, der junge Dhammapala ist weise; er hat die Vollendung in den drei Veden und den achtzehn Künsten erreicht. Aber infolge einer Unpässlichkeit hat ihn der Tod ereilt. Alles Geschaffene ist unbeständig; seid nicht bekümmert!“ Da schlug sich der Brahmane in die Hand und lachte laut. Als der Lehrer ihn fragte: „Warum lachst du denn, Brahmane?“, antwortete er: „Mein Sohn stirbt nicht; irgend ein anderer wird gestorben sein.“ Der Lehrer aber fuhr fort: „Brahmane, nur dein Sohn ist gestorben; sieh seine Gebeine und glaube es!“ Dabei legte er die Knochen nieder und sagte: „Dies sind die Gebeine deines Sohnes.“ Doch der Vater erwiderte: „Diese werden von einem Hirsche oder von einem Hund sein; mein Sohn aber ist nicht tot. In unserer Familie ist seit der siebenten Generation niemand vorher in seiner Jugend gestorben; du redest die Unwahrheit.“ In diesem Augenblicke schlugen sich alle in die Hände und erhoben ein lautes Gelächter.

Als der Lehrer diese wunderbare Erscheinung sah, wurde er von Freude erfüllt und sagte: „O Brahmane, die Regel in eurer Familie, dass die Jungen nicht sterben, kann nicht ohne bestimmten Grund sein; aus welcher Veranlassung sterben bei euch die Jungen nicht?“ Und indem er ihn danach fragte, sprach er folgende fünfte Strophe:

§1. „Wie ist dein Leben, wie dein heil'ger Wandel,
von welchem guten Werk ist dies die Frucht?
Verkünde mir, Brahmane, diese Sache;
warum denn sterben deine Jungen nicht?“

Als dies der Brahmane hörte, schilderte er, durch welcher Tugend Ausübung in dieser Familie die Jungen nicht stürben, indem er folgende Strophen sprach:

§2. „Wir wandeln recht, wir sagen keine Lügen,
wir halten böse Taten von uns fern,
von allem Unedlen wir uns enthalten;
darum stirbt man bei uns nicht in der Jugend.
 
§3. Von Gut und Böse kennen wir die Art,
doch nicht kann uns der Bösen Tun gefallen;
wir meiden Böse, lassen nicht die Guten;
darum stirbt man bei uns nicht in der Jugend.
 
§4. Auch sind wir wohl gesinnt schon vor dem Geben;
weil wir dann fröhlich sind beim Geben selbst
und nach dem Spenden uns nicht mehr betrüben,
darum stirbt man bei uns nicht in der Jugend [6].
 
§5. Asketen und Brahmanen, welche fremd,
die Wanderer, die Bettler und die Armen
mit Speise und mit Trank wir sättigen;
darum stirbt man bei uns nicht in der Jugend.
 
§6. Wir brechen unsrer Gattin nicht die Treue
und uns auch bricht die Gattin nicht die Treue;
außer mit dieser leben wir in Reinheit;
darum stirbt man bei uns nicht in der Jugend.
 
§7. Von diesen Tugendhaften werden uns
geboren weise, einsichtsvolle Söhne,
die voll Gelehrsamkeit und tiefem Wissen;
darum stirbt man bei uns nicht in der Jugend.
 
§8. Mutter und Vater, Schwestern sowie Brüder,
auch Frau und Kind, kurz alle wandeln wir
in Tugend um des künft'gen Lebens willen;
darum stirbt man bei uns nicht in der Jugend.
 
§9. Sklaven und Sklavinnen, die bei uns leben,
auch alle Dienerschaft und das Gesinde,
sie üben Tugend um der Zukunft willen;
darum stirbt man bei uns nicht in der Jugend.“

Mit den folgenden beiden Schlussstrophen aber verkündete er den Vorzug der in der Tugend Wandelnden:

§10. „Die Tugend schützt fürwahr den Tugendhaften,
die wohl geübte Tugend bringt das Glück.
Dies ist der Vorteil wohl geübter Tugend:
nicht in die Hölle kommt der Tugendhafte [7].
 
§11. Die Tugend schützt fürwahr den Tugendhaften
so wie ein großer Schirm zur Regenzeit.
Durch Tugend ward bewahrt mein Dhammapala;
von andern sind die Knochen, heil mein Knabe.“ —

Als dies der Lehrer vernahm, dachte er: „Mein Kommen war ein gutes Kommen; von Erfolg ist es begleitet, nicht fruchtlos.“ Voll Befriedigung bat er den Vater des Dhammapala um Verzeihung und fügte hinzu: „Ich kam hierher, um Euch auf die Probe zu stellen, und brachte darum diese Hirschknochen mit. Euer Sohn ist gesund; teilt auch mir die Tugend mit, die Ihr bewahrt.“ Nachdem er dies auf ein Blatt geschrieben hatte und ein paar Tage dort geblieben war, kehrte er nach Takkasilā zurück, ließ den Dhammapala noch alle Künste lernen und entließ ihn dann mit großer Ehrung.

 

§C. Nachdem der Meister dem Großkönig Suddhodana diese Unterweisung beendet und die Wahrheiten verkündet hatte, verband er das Jātaka (am Ende der Verkündigung der Wahrheiten aber gelangte der König zur Frucht der Nichtrückkehr) mit folgenden Worten: „Damals waren die Eltern aus der Großkönigsfamilie, der Lehrer war Sāriputta, die Schar war die Buddhaschar, der junge Dhammapala aber war ich.“

Ende der großen Erzählung von Dhammapala


[1] So genannt zum Unterschied von der „kleinen Erzählung von Dhammapala“, Jātaka 358.

[2] Über diesen ersten Besuch Buddhas in seiner Vaterstadt nach seiner Bekehrung vgl. „Leben des Buddha“, S. 137—139.

[3] Diese Geschichte findet sich nicht in den alten Pali-Texten, sondern außer in nordbuddhistischen Texten erst in der Nidanakatha (Jātakam ed. Fausböll, Band I, S. 67).

[4] Die Gegensätze zu den zehn Wegen des Unrechts; vgl. Jātaka 50 Anm. 6 [Diese sind: 1. Mord, 2. Diebstahl, 3. Hurerei, 4. Lüge, 5. Verleumdung, 6. unfreundliche Rede, 7. leichtsinnige Rede, 8. Habsucht, 9. Hass, 10. falscher Glaube.] und Jātaka 402 Anm. 2 [Die zehn Wege tugendhaften Wandels sind: 1. die Enthaltung vom Töten lebender Wesen, 2. die Enthaltung vom Nichtspenden von Almosen, 3. von Unzucht, 4. von Lügen, 5. von Verleumdung, 6. von unfreundlicher Rede, 7. von unzüchtiger Rede, 8. Freiheit von Begierden, 9. frei sein von Bosheit gegen andere, 10. rechter Glaube.].

[5] Er merkt sogleich, dass ein solcher Vorzug nur die Frucht einer besonderen Tugend sein kann.

[6] Diese Strophe findet sich auch im Jātaka 390 Strophe 1.

[7] Diese Strophe findet sich auch in anderen Pali-Texten; so Dhammapadam p. 126, Nidanakatha p. 31, Theragatha p. 35.


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