Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

149. Die Erzählung von dem einen Blatt (Ekapanna-Jātaka)

„Ein einz'ges Blatt hat dieser Baum“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er bei Vesali im Mahavana in der Pagodenhalle verweilte, mit Beziehung auf einen bösartigen jungen Licchavi-Prinzen von Vesali. Zu dieser Zeit nämlich war die Stadt Vesali von drei Mauern umgeben, die je ein Gavuta [1] voneinander entfernt waren; sie war an drei Stellen mit Stadttoren und Wachttürmen ausgestattet und äußerst herrlich anzusehen. Dort waren siebentausendsiebenhundertsieben Könige, die dort beständig wohnten und regierten; ebenso viele Vizekönige gab es dort, ebenso viele Heerführer, ebenso viele Schatzmeister.

Unter diesen Königssöhnen aber war einer, mit Namen „der bösartige Licchavi-Prinz“ [1a]; der war zornig, wild, barsch und voller Grausamkeit; beständig brannte er vor Zorn wie eine Giftschlange. Infolge seines Zornes war niemand im Stande, zwei oder drei Worte vor ihm zu sagen, und auch seine Eltern, Verwandten, Freunde und Vertrauten vermochten nicht, ihn zu belehren. Daher kam seinen Eltern folgender Gedanke: „Dieser Prinz ist allzu grausam und gewalttätig. Außer dem völlig Erleuchteten ist niemand im Stande, ihn zu bezwingen; er muss ein von Buddha zu Bezwingender sein.“ Und sie gingen mit ihm zu dem Meister hin, begrüßten ihn und sprachen: „Herr, dieser Prinz ist wild und grausam und brennt vor Zorn; gebt ihm eine Ermahnung.“

Darauf mahnte ihn der Meister mit folgenden Worten: „O Prinz, unter diesen Wesen darf man nicht wild, barsch, gewalttätig und verletzend sein. Eine barsche Rede ist nämlich auch der leiblichen Mutter, dem Vater, dem Sohn, den Brüdern und Schwestern, der Gattin, den Freunden und Verwandten unlieb und unangenehm. Sie wirkt beängstigend wie eine Schlange, die herankommt, uns zu beißen, wie ein Räuber, der im Walde aufspringt, wie ein Dämon, der sich nähert, um zu fressen; sie bewirkt für die nächstfolgende Existenz die Wiedergeburt in der Hölle und anderen Straforten. In dieser Welt ist ein zorniger Mensch garstig, auch wenn er mit allem Schmuck geziert ist; wenn auch sein Antlitz an Herrlichkeit dem Vollmonde gleicht, so ist es doch hässlich gleich einer vom Feuer berührten Lotosblume oder einer goldenen Spiegelscheibe, die mit Schmutz bedeckt ist. Infolge unschönen Zornes erstechen sich die Leute selbst mit dem Schwert, sie essen Gift, sie hängen sich an einer Schnur auf, sie stürzen sich in einen Abgrund; und wenn sie so infolge ihres Zornes gestorben sind, gelangen sie in die Hölle und ähnliche Straforte. Auch die andere Verletzenden erwerben in dieser Welt nur Verachtung und gelangen nach der Zerstörung des Körpers in die Hölle und andere Straforte. Wenn sie dann wieder menschliches Wesen angenommen haben, sind sie von der Zeit ihrer Geburt an vielen Krankheiten unterworfen; sie leiden an den Augen, an den Ohren usw. und fallen von einer dieser Krankheiten in die andere. Von der Krankheit kommen sie nicht los und sind beständig im Unglück. Daher muss man gegen alle Wesen eine liebevolle Gesinnung, eine freundliche Gesinnung betätigen; ein solcher Mann nämlich wird von der Furcht vor der Hölle und den anderen Straforten erlöst.“

Als der Prinz diese Ermahnung erhielt, wurde er durch die eine Ermahnung demütigen Sinnes, zahm, voll Selbstverleugnung und sein Herz wurde liebevoll und sanft. Auch wenn ihn jemand schalt oder stieß, so wandte er sich nicht um, um hinzuschauen. Er war wie eine Schlange, der die Zähne herausgerissen sind, wie ein Krebs, dessen Scheren zerbrochen sind, wie ein Stier, dem die Hörner abgebrochen sind. —

Als die Mönche diese seine veränderte Beschaffenheit wahrnahmen, begannen sie einmal in der Lehrhalle folgendes Gespräch: „Freund, den bösen Licchavi-Prinzen konnten trotz ihrer vielen Ermahnungen weder seine Eltern noch seine Verwandten und Freunde zähmen; der völlig Erleuchtete aber hat ihn durch eine einzige Ermahnung gezähmt, mit Selbstverleugnung erfüllt und ihn, der sechs brünstigen, starken Elefanten glich, auf einmal gebändigt. Wie treffend ist folgendes gesagt [2]: ‘Von einem Elefantenbändiger wird die Elefantendressur betätigt; er läuft nur nach einer Richtung, nach Osten oder nach Westen oder nach Norden oder nach Süden. Ebenso verhält es sich mit einem Pferdebändiger und einem Rinderbändiger. Von dem Vollendeten aber, ihr Mönche, von dem Heiligen, völlig Erleuchteten, wird die Menschenbändigung betätigt. Nach allen acht Himmelsgegenden läuft er. Wer einen Körper besitzt, sieht die Körper: so ist er beschaffen usw. [3]. Ihn nennt man den unübertrefflichen der Lehrer der Lebensweisheit, den besten Menschenbändiger.’“ — Da kam der Meister und fragte: „Zu welcher Erzählung, ihr Mönche, habt ihr euch jetzt hier niedergelassen?“ Als sie antworteten: „Zu der und der“, sprach er weiter: „Nicht nur jetzt, ihr Mönche, habe ich diesen durch eine einzige Mahnung gebändigt, sondern auch schon früher bändigte ich ihn durch eine einzige Mahnung.“ Und nach diesen Worten erzählte er folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, nahm der Bodhisattva in einer Brahmanenfamilie des Nordens seine Wiedergeburt. Als er herangewachsen war und zu Takkasilā die drei Veden und alle Künste erlernt hatte, führte er eine Zeitlang ein häusliches Leben; nach dem Tode seiner Eltern aber betätigte er die Weltflucht der Weisen, erlangte die Erkenntnisse und die Vollendungen und nahm im Himalaya seinen Aufenthalt. Nachdem er dort lange geweilt, ging er einmal, um sich mit Salz und Saurem zu versehen, auf das Land, gelangte nach Benares und übernachtete im Parke des Königs. Am nächsten Tage ging er, unten und oben wohl gekleidet, im Asketenaufzuge in die Stadt hinein, um Almosen zu sammeln, und kam dabei an die Türe des Königs. Der König schaute gerade zum Fenster hinaus; da sah er ihn und dachte, befriedigt über sein würdiges Auftreten: „Dieser Asket kommt daher ruhig aussehend, ruhigen Sinnes; er schaut nur vor sich hin [4] und geht mit dem majestätischen Schritte eines Löwen, wie wenn er bei jedem Schritte eine Börse, die tausend Goldstücke enthält, hinsetzen würde. Wenn es wirklich Frieden gibt, muss er in seiner Brust wohnen.“ Und er blickte einen Minister an. Dieser sprach: „Was soll ich tun, o Fürst?“ „Hole diesen Asketen her.“ Er erwiderte: „Gut, o Fürst“, ging zum Bodhisattva hin, begrüßte ihn und nahm ihm seine Almosenschüssel aus der Hand. Als dieser fragte: „Was willst du, Tugendreicher?“, antwortete er: „Der König lässt dich rufen.“ Der Bodhisattva aber entgegnete: „Wir sind keine Besucher der königlichen Familie, wir sind Leute vom Himalaya [5].“

Der Minister ging hin und teilte dem Könige die Sache mit. Dieser sprach: „Wir haben keinen andern, der unsre Familie besucht; bringe ihn her!“ Darauf ging der Minister wieder zum Bodhisattva, begrüßte ihn, brachte seine Bitte vor und geleitete ihn nach dem Königspalaste. Der König begrüßte den Bodhisattva, ließ ihn unter dem aufgespannten weißen Sonnenschirm auf einem goldenen Lager Platz nehmen, gab ihm die für ihn selbst zubereitete, äußerst wohlschmeckende Speise zu essen und fragte dann: „Herr, wo wohnt Ihr?“ „Wir sind Himalaya-Leute, o Großkönig.“ „Wohin geht Ihr jetzt?“ „Wir suchen nach einem passenden Aufenthalt für die Regenzeit, o Großkönig.“ Da sprach der König: „Herr, wohnt darum nur in unserm Parke!“ Als er seine Einwilligung erhalten und selbst gespeist hatte, ging er mit dem Bodhisattva nach dem Parke, ließ eine Laubhütte errichten und Örtlichkeiten für die Nacht und den Tag machen; dann gab er ihm die notwendigen Mönchsrequisiten, übergab ihn dem Parkwächter zum Schutze und kehrte in die Stadt zurück. — Von da an wohnte der Bodhisattva in dem Parke und der König kam Tag für Tag zwei- oder dreimal, um ihm aufzuwarten.

Es hatte aber der König einen Sohn, namens „Prinz Bösewicht“ [5a]; der war wild und barsch und weder der König, noch seine übrigen Verwandten konnten ihn zähmen. Auch die Minister, Brahmanen und Hausväter kamen zusammen und sagten: „Gebieter, tue nicht so; so darf man nicht tun“; aber obwohl sie dies voll Zorn sagten, brachten sie ihn nicht dazu, ihre Worte anzunehmen. Da dachte der König: „Mit Ausnahme meines edlen, tugendhaften Asketen ist niemand im Stande, diesen Prinzen zu bändigen; er nur wird ihn bezähmen.“ Und er ging mit dem Prinzen zu dem Bodhisattva hin und sagte: „Herr, dieser Prinz ist wild und barsch. Wir können ihn nicht bändigen; belehrt Ihr ihn durch ein Mittel!“ Damit übergab er den Prinzen dem Bodhisattva und entfernte sich.

Der Bodhisattva nahm den Prinzen mit und wandelte im Parke herum; da sah er einen jungen Nimba-Baum [6], der nur zwei Blätter hatte, auf jeder Seite eines, und sprach zu dem Prinzen: „Prinz, iss sogleich ein Blatt von diesem jungen Baume und erkunde seinen Geschmack.“ Jener verzehrte ein Blatt; als er aber dessen Geschmack merkte, sagte er: „Pfui“, und spie es mit Speichel auf den Boden aus. Als er gefragt wurde: „Was ist dies, Prinz?“, sagte er: „Herr, jetzt schon gleicht dieser Baum dem Halahala-Gifte; wenn er aber wächst, wird er viele Menschen töten.“ Und er riss den jungen Nimba-Baum mit der Wurzel aus, zerrieb ihn mit den Händen und sprach folgende Strophe:

§1. „Ein einz'ges Blatt hat dieser Baum,

nicht misst vier Zoll vom Boden er.

Sein Blatt gleicht an Geschmack dem Gift;

wie wird er, wenn er groß erst wird?“

Da aber sprach zu ihm der Bodhisattva: „O Prinz, du hast bei diesem jungen Nimba-Baume gedacht: ‘Jetzt ist er schon so bitter; wie soll er Nutzen bringen, wenn er alt geworden?’, und hast ihn ausgerissen, zerrieben und weggeworfen. Wie du es mit diesem gemacht hast, so werden auch von dir die Bewohner des Reiches denken: ‘Dieser Prinz ist schon in seiner Jugend wild und barsch; was wird er erst tun, wenn er älter geworden und den Thron bestiegen hat? Wie soll uns durch ihn genützt werden?’ Und sie werden dir das deiner Familie gehörige Reich nicht geben, sondern dich wie einen jungen Nimba-Baum entwurzeln und verbannen. Darum lasse die Ähnlichkeit mit diesem Nimba-Baume sein und sei von nun an erfüllt von Geduld, Liebe und Mitleid!“

Von da an wurde er demütigen Sinnes, voll Selbstverleugnung, von Geduld, Liebe und Mitleid erfüllt und beharrte bei der Ermahnung des Bodhisattva. Nach dem Tode seines Vaters erhielt er die Regierung, tat gute Werke wie Almosen Geben u. dgl. und gelangte hierauf an den Ort seiner Verdienste.

 

§C. Nachdem der Meister diese Lehrunterweisung beendigt, sprach er: „Nicht nur jetzt, ihr Mönche, habe ich diesen bösen Licchavi-Prinzen gebändigt, sondern auch schon früher bändigte ich ihn“, und verband dann das Jātaka mit folgenden Worten: „Der damalige böse Prinz war dieser Licchavi-Prinz, der König war Ānanda, der die Ermahnung gebende Asket aber war ich.“

Ende der Erzählung von dem einen Blatte


[1] Ein Gavuta ist der vierte Teil eines Yojana; also etwa gleich drei englischen Meilen.

[1a] Auf Pali: „duttha-Licchavikumara“, wohl eher Beschreibung als Eigenname.

[2] Chalmers macht darauf aufmerksam, dass diese Stelle sich in keinem der uns bekannten Texte findet.

[3] Diese Stelle scheint sich auf die so genannten „acht Befreiungen“ zu beziehen, wie sie im Mahaparinibbana-Sutta auseinandergesetzt sind. Vgl. „Leben des Buddha“, S. 262 f.

[4] Dieser Ausdruck, der eigentlich bedeutet: „nur auf eines Joches Weite vor sich hinschauend“, wird oft von Buddha gebraucht.

[5] Er meint also, der König habe sich geirrt und halte ihn für einen der täglichen Almosenempfänger.

[5a] Auf Pali: „dutthakumara“, wohl eher Beschreibung als Eigenname.

[6] Azadirachta indica, ein Baum mit sehr bitteren Früchten.


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