Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

121. Die Erzählung von dem (Kusa-)Grasstängel (Kusanali-Jātaka) [0a]

„Mag es ein Gleicher sein oder ein Bessrer“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er im Jetavana verweilte, mit Beziehung auf einen treuen Freund des Anāthapindika. Die Freunde, Vertrauten, Verwandten und Bekannten des Anāthapindika sagten diesem nämlich: „O Großkaufmann, dieser ist dir an Herkunft, Geschlecht, Vermögen und Glück nicht ebenbürtig und nicht überlegen. Warum machst du dich mit ihm vertraut? Tue dies nicht!“ Und immer wieder suchten sie ihn davon abzuhalten. Anāthapindika aber dachte: „Vertraute Freundschaft ist mit Niedrigeren, mit Gleichstehenden und mit Höherstehenden zu betätigen“, und er nahm das Wort der anderen nicht an. — Als er einmal nach einem ihm gehörigen Dorfe ging, machte er jenen zum Wächter seines Hauses usw.

§D. ganz wie oben in der Geschichte von dem Unglücksvogel [Jātaka 83]. —

Als aber damals Anāthapindika erzählte, was mit seinem Haus vorgegangen war, sprach der Meister: „O Hausvater, ein Freund ist nichts Geringes. Die Fähigkeit, die Freundestugend zu bewahren, ist das Maßgebende. Ein Freund nämlich, der niedriger ist als man selbst oder auch gleich, ist als überlegen zu betrachten; denn sie alle erledigen die ihnen aufgetragene Pflicht. Jetzt bist du durch deinen treuen Freund der Herr deines Vermögens geblieben; auch früher gab es Leute, die durch ihren treuen Freund Herren ihm Wohnung blieben.“ Und nach diesen Worten erzählte er auf die Bitten von jenem folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, nahm der Bodhisattva im Parke des Königs als Gottheit in einem Kusa-Grasstängelgebüsch seine Wiedergeburt. In diesem Parke aber stand bei dem königlichen Sitze ein Ruca-Baum [ein Wunschbaum] mit geradem Stamm und kreisrundem Geäste, der beim König beliebt und geehrt war; man nannte ihn auch Mukkhaka-Baum. Dort hatte ein sehr mächtiger Götterkönig seine Wiedergeburt genommen. Mit diesem stand der Bodhisattva in freundschaftlichem Verhältnis.

Damals nun wohnte der König in einem Palaste, der nur einen Pfosten hatte. Dieser Pfosten wankte und man teilte seinen wankenden Zustand dem Könige mit. Der König ließ Zimmerleute rufen und sprach: „Freunde, von meinem königlichen Palast, der nur einen Pfosten hat, wankt der Pfosten; holt einen vorzüglichen Pfosten und macht ihn fest.“ Sie gaben mit dem Worte: „Gut“, ihre Zustimmung zu des Königs Worten zu erkennen und suchten nach einem dazu geeigneten Baume. Als sie anderswo keinen fanden, gingen sie in den Park und sahen dort den Mukkhaka-Baum. Sie gingen zum Könige hin, und als er fragte: „Wie, ihr Lieben, habt ihr einen dazu geeigneten Baum gefunden?“, sagten sie: „Ja, Herr, wir haben einen gefunden, getrauen uns aber nicht, ihn zu fällen.“ „Warum?“ „Als wir anderswo keinen Baum fanden, gingen wir in den Park; aber auch dort sahen wir keinen andern außer dem heiligen Baum. Daher getrauen wir uns nicht, ihn zu fällen, weil er ein heiliger Baum ist.“ Der König erwiderte: „Geht, fällt ihn und macht unsern Palast fest; wir werden einen andern heiligen Baum pflanzen.“ Sie sagten: „Gut“, nahmen ein Opfer mit, gingen in den Park, brachten, da sie dachten, sie würden ihn morgen abhauen, dem Baum ein Opfer und entfernten sich.

Als die Baumgottheit den Sachverhalt einsah, dachte sie: „Morgen werden sie meine Wohnung zerstören; wohin soll ich mit meinen Kindern gehen?“ Und da sie keinen Ort fand, an den sie gehen konnte, nahm sie ihre Kindlein um den Hals und weinte. Die Waldgottheiten, die ihre Vertrauten und Freunde waren, kamen herbei und fragten: „Was ist dies?“; und als sie den Sachverhalt erfuhren, fingen sie an, jene zu umarmen und auch zu weinen, weil sie kein Mittel sahen, um die Zimmerleute zurückzuhalten. —

Zu dieser Zeit dachte der Bodhisattva: „Ich will die Baumgottheit besuchen“; und er ging dorthin und hörte die Begebenheit. Da sprach er: „Gut, habt keine Sorge; ich werde den Baum nicht fällen lassen. Morgen, wenn die Zimmerleute kommen, sollt ihr sehen, was ich tue.“ Damit tröstete er die Gottheiten. Als am nächsten Tage die Zimmerleute kamen, nahm er die Gestalt eines Chamäleons an, ging vor den Zimmerleuten her, schlüpfte in die Wurzel des heiligen Baumes, stieg dann auf die Mitte des Baumes, als wenn er den Baum durchlöchert hätte, kam am obern Ende des Stammes wieder heraus und legte sich hin, den Kopf wiegend. Als der Meister der Zimmerleute das Chamäleon sah, schlug er mit der Hand an den Baum und sagte: „Der Baum ist hohl und nicht gut; weil wir ihn gestern nicht untersuchten, brachten wir das Opfer dar.“ Nachdem er so den einzig festen Baum getadelt hatte, ging er fort.

So blieb durch den Bodhisattva die Baumgottheit Herr über den Baum. Um sie zu begrüßen, versammelten sich viele befreundete und vertraute Gottheiten. Erfreut, dass sie ihre Wohnung behalten, rühmte die Baumgottheit inmitten der anderen Gottheiten den Vorzug des Bodhisattva, indem sie sprach: „He, ihr Gottheiten, obwohl wir sehr mächtig sind, fanden wir infolge der Langsamkeit unsres Denkens nicht diese List; die Kusa-Grasstängelgottheit aber hat durch ihre Fülle von Verstand uns zu Herren unsrer Wohnung gemacht. Einen Freund muss man sich wählen, einen gleichen oder einen überlegenen oder auch einen geringeren. Sie alle besiegen durch ihre Kraft das Leid, das ihre Freunde getroffen, und machen sie wieder glücklich.“

Nachdem sie so die Freundestugend gepriesen, sprach sie folgende Strophe:

§1. „Mag es ein Gleicher sein oder ein Bessrer,
ein niedriger Gestellter auch es sein darf,
die bringen alle Rettung im Verderben,
so wie der Kusa-Stängel hier dem Wunschbaum.“

„Daher müssen auch andre, wenn sie vom Leid befreit werden wollen, nicht schauen, ob er gleich oder überlegen ist, sondern einen Geringeren, der weise ist, zum Freunde wählen.“ Nachdem so die Ruca-Baumgottheit mit dieser Strophe der Götterversammlung die Wahrheit verkündigt hatte, verlebte sie den Rest ihrer Existenz und gelangte dann zusammen mit der Kusa-Grasstängelgottheit an den Ort ihrer Verdienste.

 

§C. Nachdem der Meister diese Lehrunterweisung beschlossen hatte, verband er das Jātaka mit folgenden Worten: „Damals war die Ruca-Baumgottheit Ānanda, die Kusa-Grasstängelgottheit aber war ich.“

Ende der Erzählung von dem Kusa-Grasstängel


[0a] Dutoit übersetzt „kusanali“ in der Überschrift mit „Grasstängel“, am Ende mit „Kusa-Grasstängel“. Gemeint ist immer ein Halm des Kusa-Grases.


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