Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

45. Die Erzählung von Rohini (Rohini-Jātaka)

„Ja, besser ist ein kluger Feind“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er im Jetavana verweilte, mit Beziehung auf eine Sklavin des Großkaufmanns Anāthapindika. Anāthapindika besaß nämlich eine Sklavin namens Rohini [1]. Deren alte Mutter kam an den Ort, wo sie Reis zerstieß, und legte sich nieder. Da umschwärmten sie Mücken und bissen sie, als wenn sie mit einer Nadel stächen. Sie sprach zu ihrer Tochter: „Liebe, die Mücken beißen mich; verscheuche sie.“ Diese erwiderte: „Ich will sie vertreiben, Mutter“, und erhob ihre Keule; aber indem sie dachte: „Ich will die Mücken am Körper meiner Mutter töten und vernichten“, traf sie ihre Mutter mit der Keule und brachte sie so ums Leben. Als sie dies sah, rief sie: „Mutter!“, und begann zu weinen. —

Diese Begebenheit teilte man dem Großkaufmann mit. Der Großkaufmann ließ ihrem Leichnam die letzte Ehrung erweisen; dann begab er sich nach dem Kloster und erzählte dem Meister die ganze Sache. Darauf sprach der Meister: „Nicht nur jetzt, Hausvater, hat diese, als sie die Mücken an ihrer Mutter Körper erschlagen wollte, mit der Keule ihre Mutter getroffen und getötet, sondern auch schon früher tötete sie dieselbe.“ Und darauf erzählte er auf die Bitten jenes folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, nahm der Bodhisattva in einer Großkaufmannsfamilie seine Wiedergeburt und erhielt nach dem Tode seines Vaters die Großkaufmannsstelle. Auch er hatte eine Sklavin namens Rohini. Auch sie wurde von ihrer Mutter, als diese sich an den Ort begeben hatte, wo jene Reis zerstieß, und sich niederlegte, gebeten: „Wehre mir die Fliegen ab, Liebe“; und ebenso traf sie ihre Mutter mit der Keule, brachte sie so ums Leben und begann zu weinen.

Als der Bodhisattva diese Begebenheit erfuhr, bedachte er: „Ein Feind selbst ist in dieser Welt besser, wenn er klug ist.“ Und er sprach folgende Strophe:

§1. „Ja, besser ist ein kluger Feind,
als ein erbarmungsvoller Tor;
sieh Rohini, die unbedacht
die Mutter tot schlug und sich grämt.“

So verkündete der Bodhisattva mit dieser Strophe die Lehre, indem er den Klugen lobte.

 

§C. Nachdem der Meister mit den Worten: „Nicht nur jetzt, o Hausvater, hat diese, da sie die Fliegen töten wollte, ihre Mutter getötet, sondern auch schon früher tötete sie dieselbe“, diese Lehrunterweisung beendigt hatte, stellte er die gegenseitigen Beziehungen fest und verband das Jātaka mit folgenden Worten: „Damals war die Mutter die Mutter, die Tochter war die Tochter, der Großkaufmann aber war ich.“

Ende der Erzählung von Rohini


[1] Das Wort bedeutet eigentlich „rote Kuh“.


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