Im ersten Teil unseres Vortrages kamen wir über die Frage, was eigentlich ein
Lebewesen sei, zum Daseinsprozeß selbst. Diesen untergliederten wir dann in fünf
Grundfunktionen, nämlich in Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, geistiges
Gestalten und Bewußtsein.
Auf diese fünf Daseinsgruppen oder khandha lassen sich alle Daseinserscheinungen zurückführen, oder anders ausgedrückt: Dasein erschöpft sich in einem unablässigen Bewußtwerden von Körperfunktionen, Gefühlen, Wahrnehmungen und Willensregungen. Wir haben weiter festgestellt, daß Körperlichkeit, Gefühl und Wahrnehmung karmische Folgen sind und unabhängig vom momentanen Willen ins Bewußtsein treten, wobei sich in diesen Gestaltungen karmische Energie aufzehrt. Andererseits schafft jede willentliche Reaktion wieder neues Karma und erzeugt damit die Energie zur Bildung neuer Gestaltungen.
Der immer wieder aufspringende Wille oder, allgemeiner gesprochen, der
Lebensdurst (tanhā) ist also der
treibende Motor des ganzen Daseinsprozesses, während die übrigen Daseinsfaktoren
lediglich den Charakter von Nachwirkungen haben. Diese Nachwirkungen bestimmen
schlechthin unsere gesamte Wirklichkeit, unser ganzes Daseinsbefinden.
Von den karmisch bedingten Inhalten unseres Bewußtseins hängt es ab, ob wir uns gesund oder krank, wohlgestaltet oder mißgebildet wähnen, ob wir Lust oder Schmerz, Freude oder Leid empfinden, ob wir Angenehmes wahrnehmen oder Unangenehmes, ob uns die Welt freundlich oder feindlich gesinnt erscheint. Jeder Augenblick unseres Lebens ist vollständig bestimmt durch den jeweiligen Zustand unseres Bewußtseins. Dieser ändert sich fortwährend.
Je nachdem, ob heilsames oder unheilsames, starkes oder schwaches Karma zur Reife gelangt, schwankt das Bewußtsein zwischen angenehm und unangenehm empfundenen Zuständen, die wiederum mit wechselnder Deutlichkeit und Klarheit erlebt werden. Hinsichtlich der Intensität des Bewußtseins bildet sich ein regelmäßiger Rhythmus heraus, in welchem das Bewußtsein zwischen Zuständen heller Wachheil und tiefer Bewußtlosigkeit schwingt.
Dieser periodische Wechsel läßt sich einfach erklären: Befinden wir uns zum Beispiel gerade in einer relativ schwachen Bewußtseinslage, so kann in dieser der aufspringende Wille ebenfalls nur schwach sein; folglich wird auch nur schwaches Karma gebildet, welches in Zukunft wieder zu einer schwachen Bewußtseinsphase führen wird. Entsprechendes gilt für die klaren Wachzustände und die nahezu bewußtlosen Phasen des Tiefschlafes. Ähnlich dem Gezeitenwechsel von Ebbe und Flut entsteht und vergeht das Bewußtsein, werden die Daseinsgruppen ergriffen und wieder losgelassen.
Diesem Gesetz der Periodizität unterliegt auch die Wiedergeburt. Der Vorgang des
Sterbens und Wiedergeborenwerdens unterscheidet sich von dem des täglichen
Einschlafens und Erwachens im wesentlichen nur dadurch, daß im Todesaugenblick
die Körperlichkeitsgruppe völlig aufgegeben wird, während im Schlaf ein
vermindertes Bewußtsein von ihr erhalten bleibt. Dieses reduzierte Bewußtsein
ermöglicht selbst während des Tiefschlafes den Fortbestand des Organismus und
seiner lebensnotwendigen Funktionen wie Atmung, Kreislauf, Verdauung usw. Wird
jedoch ein gewisses minimales Bewußtsein unterschritten, dann können diese
Funktionen nicht mehr ausgeführt werden, der Organismus stirbt, die
Daseinsgruppen zerfallen. Ungeachtet dessen nimmt der Karmastrom jedoch seinen
Fortgang. Auf die Phase schwächster Karmaformationen folgt allmählich wieder
stärkeres Karma, die Daseinsgruppen werden wieder ergriffen, ein neuer
Organismus entsteht.
Mit Einschlafen und Erwachen, Tod und Geburt haben wir jedoch nur die relativ
groben Bewegungen des Daseinsprozesses erfaßt. Tatsächlich schwingt das
Bewußtsein in jedem Augenblick mit unvorstellbarer Geschwindigkeit zwischen
Zuständen unterschiedlicher Intensität.
Das Wirklichkeitserleben wird also nicht nur durch die Stärke und Qualität des zur Reife gelangenden Karmas bestimmt, sondern auch durch die Fähigkeit des Bewußtseins, den wechselnden Karmaschwingungen folgen zu können. Das normale Durchschnittsbewußtsein heftet sich willentlich an bestimmte Erscheinungen des Daseinsstromes und verliert dadurch seine Beweglichkeit; es verschleift die einzelnen Schwingungen zu einem trägen Mittelwert, der sich nur langsam ändert. Hierdurch entsteht dann die falsche Vorstellung von einer dauerhaften und beständigen Welt.
Mittels Meditation kann diese Verhaftung an einzelne Erscheinungen nach und nach
gelöst werden, bis das Bewußtsein auch den feinsten Bewegungen des Karmastromes
folgen kann und dann in Resonanz mit seiner natürlichen Ursache frei schwingt.
Dieser Bewußtseinszustand offenbart dann klar die Tatsache, daß Wiedergeburt in
jedem Augenblick stattfindet. Mehr noch: Es wird eine Erinnerung an frühere
Wiedergeburten möglich, und zwar nicht nur innerhalb einer Existenz, sondern
über die ganze karmische Reihe. Es besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied
zwischen dem Bewußtsein des physischen Todesmomentes und dem
Meditationsbewußtsein. Ersteres kommt durch eine allgemeine Schwächung des
Karmastromes zustande und führt zum Zerfall der Daseinsgruppen. In der
Meditation bleibt die gerade vorhandene Stärke des Karmastromes und damit die
Bedingung für den Fortbestand des Organismus voll erhalten. Dennoch kann das
frei schwingende Bewußtsein bis in die tiefsten Schichten, bis auf den Grund
aller karmischen Gestaltungen vordringen.
Im Grunde genommen ist hiermit bereits alles Wesentliche zum Thema Wiedergeburt
gesagt. Wer den Zusammenhang zwischen den fünf Daseinsgruppen und dem
Karmagesetz begriffen hat, versteht auch die Wiedergeburt; durch Meditation wird
dieses Verständnis zur zweifelsfreien Gewißheit. - Wir wollen hier aber noch auf
eine andere Auffassung von Wiedergeburt eingehen, welche auf einem Mangel an
tieferer Einsicht beruht. Hierzu sagt Buddhagosa im Visuddhi Magga: "Derjenige,
der keine klare Idee betreffs der Wiedergeburt hat und sich nicht der Tatsache
bewußt ist, daß das Erscheinen der Daseinsgruppen immer und überall Wiedergeburt
bedeutet, kommt zu allerhand Schlußfolgerungen wie: Ein Lebewesen ist geboren
und hat einen neuen Körper erhalten."
Nun, ob wir nach dem bisher Gesagten noch eine solche Vorstellung haben oder nicht, Tatsache bleibt, daß wir uns selbst als Lebewesen bezeichnen und daß wir diese Welt mit anderen Lebewesen teilen. Es besteht offensichtlich ein Unterschied zwischen dem, was wir erkannt haben und dem, was wir erleben. Und das ist auch nicht verwunderlich: Wir erleben ja stets nur Karmafolgen, und durch bloße Erkenntnis dieses Umstandes wird am Karmastrom noch nichts geändert. Es kommt auf die Umsetzung des Erkannten in der Praxis an, auf die Willenswendung, und selbst diese wird nicht sofort zu einer total veränderten Wirklichkeit führen. Alles braucht seine Zeit, um heranzureifen. Wenn Erkenntnis nicht dem Erleben vorauseilte, wäre überhaupt keine bewußte Entwicklung möglich. Wir müssen uns aber sehr davor hüten, den Blick für unsere konkrete Wirklichkeit zu verlieren. Wer alles nur unter dem Blickwinkel "absoluter Wahrheit" sehen will, gleicht einem Bergsteiger, der auf den Gipfel starrt und dabei nicht auf seinen Weg achtet.
Leben ist wie ein Traum. Auch im Traum gibt es Körperlichkeit, Gefühl,
Wahrnehmung, Willensregung und Bewußtsein, und auch hier finden wir uns
gemeinsam mit anderen Lebewesen in einer komplizierten Welt wieder. Mit dieser
Traumwelt setzen wir uns auseinander, wir begegnen anderen Menschen, reden mit
ihnen und handeln, empfinden Zuneigung oder Haß. Wenn wir erwachen, erkennen
wir, daß alle Gestaltungen und Erlebnisse bloße Projektionen des Bewußtseins
waren. Und trotzdem können wir nicht leugnen, daß wir im Traum wirklichen
Schmerz erlitten, Kummer hatten, oder Freude und Glück empfanden.
Es gibt keine absolute Realität, aber unsere Wirklichkeit ist auch keine bloße Täuschung, die uns unberührt ließe. Solange wir nicht vollständig erwacht sind, bleiben wir gefesselt an diese oder jene Welt, unterliegen wir ihren Gesetzen, haben wir uns mit ihr auseinanderzusetzen. Zu bestimmten Zeiten ist die Welt des Traumes unsere Wirklichkeit, zu anderen Zeiten die des Wachzustandes; der Unterschied beruht auf der ungleichen Stärke des zur Reife gelangenden Karmas.
Im Hinblick auf unser Wirklichkeitserleber ist es durchaus sinnvoll, von einem
Ich, von einer Umwelt und von anderen Lebewesen zu sprechen. Überhaupt haben wir
ja keine andere verbale Ausdrucksmöglichkeit als die Umgangssprache, die noch
ganz diesem Erleben entspricht. Aber wir wissen bereits, daß diese Welt mit
ihren Gestaltungen nicht die letzte Realität sein kann, daß in jedem Augenblick
Wiedergeburt in ein neues Dasein erfolgt, daß Wirklichkeit sich entwickelt. Ein
Blick in unsere Umwelt offenbart die unendlich vielen Möglichkeiten anderer
Daseinsformen: Allein die Menschenwelt erstreckt sich von höllischen, mit
unermeßlichem Leid verbundenen Zuständen bis zu himmlischen Zuständen der
Freude, des Glücks und der Seligkeit. Götter und Teufel, Dämonen und Gespenster
brauchen wir nicht in außerirdischen Gefilden zu suchen. Sie leben in unserer
Wirklichkeit als Heilige oder Verbrecher, als Wahnsinnige oder geistig
dahindämmernde Wesen. Himmel und Hölle sind keine Ortsbezeichnungen, es sind
Zustände des Bewußtseins.
Trotz allem interessiert uns nun aber doch, wie die Lehre von den fünf
Daseinsgruppen mit der Vorstellung von einem Ich, einer Umwelt und der Vielzahl
anderer Geschöpfe vereinbar ist. Wie konnte es überhaupt zu einer solchen
Vorstellung kommen? - Wir erinnern uns, daß wir die Daseinsgruppen nach
karmischen Ursachen und Folgen unterschieden haben. Nochmals: Was immer auch an
Körperlichkeit, Gefühl und Wahrnehmung bewußt wird, entsteht nicht durch blinden
Zufall, sondern tritt als Karmafrucht, hervorgegangen aus der Saat der
Willensregungen, in Erscheinung. Solange diese inhaltsschwere Tatsache nicht
erkannt wird, scheinen Wille und Daseinsgestaltungen unabhängig voneinander zu
existieren. In diesem Stadium führen Ursachen und Wirkungen im Bewußtsein
gleichsam ein Eigenleben; der Daseinsprozeß ist zerfallen in ein Ich, welches
will, und in eine Welt von Objekten, auf welche der Wille gerichtet ist. In die
Umwelt hinein projiziert dann das Ich seinen eigenen karmischen Werdegang und
schaut ihn in Form einer unendlichen Vielzahl von Lebewesen an.
In dieser gespaltenen Wirklichkeit ist das Ich Wahrnehmungszentrum und
Aktionsquelle zugleich. Wir wissen nun, daß alle Wahrnehmungen Karmafolgen sind;
was also an Objekten wahrgenommen wird, kann immer nur Folge des Willens, nie
der Wille selbst sein. Mit diesem aber identifiziert sich das Ich, folglich kann
es sich selbst nie erkennen. Es erkennt nur Objekte, von denen es getrennt ist
und deren Ursprung ihm ein völliges Rätsel bleibt. Gleichwohl zeigen alle
Daseinserscheinungen in ihrem Ablauf nichts anderes als die Wandlungen des
karmaschaffenden Willens. Was das Ich als seine Umwelt erlebt, ist also das
objektive Spiegelbild seines subjektiven Werdeganges. Tatsächlich läßt sich in
der Objektwelt ein Entwicklungsgesetz nachweisen. Leben entstand nicht
plötzlich, es entwickelte sich allmählich, ohne daß sich ein eigentlicher Anfang
festsetzen ließe.
Die Abstammungslehre verfolgt die Entstehungsgeschichte der Arten bis zum einzelligen Organismus zurück. Alle tierischen und pflanzlichen Lebensformen, also auch der Mensch, haben dieses einzellige Entwicklungsstadium durchgemacht und sich dann weiter zu immer höheren Daseinsformen emporgearbeitet. Dabei erlebt jedes einzelne Lebewesen in seiner individuellen Entwicklung noch einmal alle wesentlichen Phasen seiner Stammesgeschichte. Die Evolution der Arten verläuft wie in einer Spirale. Bereits durchlaufene Stadien werden auf immer höheren Ebenen wiederholt, wobei diese allmähliche Entwicklung durch tiefe Einschnitte unterbrochen wird, in denen ein neuer qualitativer Zustand erreicht wird. Dieses Gesetz entspricht, bei Beachtung der unterschiedlichen Perspektive, vollkommen unserer Wiedergeburtslehre.
Aber die Abstammungslehre setzt mit dem einzelligen Organismus eine ganz
willkürliche Grenze. Wo beginnt Leben wirklich? Bei den Einzellern, den
organischen Molekülen, den Atomen, den Elementarteilchen, den energetischen
Schwingungen? Die moderne Wissenschaft lehrt keine solche Grenze. Sie kennt
keine tote Materie mehr, sie hat diese völlig aus ihrem Weltbild getilgt und
durch ein Spiel lebendiger Formen ersetzt. Energie und Materie, Geist und
Substanz, nāma-rūpa sind nur die
wechselnden Erscheinungsformen eines einzigen Daseinskreislaufs.
Der Kampf ums Dasein, wie wir ihn zwischen den Lebewesen, dem Ich und der Umwelt
erleben, ist in Wahrheit eine Auseinandersetzung des Bewußtseins mit sich
selbst. Letztlich beruht diese Bewußtseinsspaltung, die der Buddha Ich-Wahn
nennt, auf der Unkenntnis des Karmagesetzes und der bedingten Natur der
Daseinsgruppen, auf Unwissenheit also. Unwissenheit ist die allgemeinste
Bedingung für den Daseinsprozeß überhaupt. Denn nur solange der Ich-Wahn
besteht, werden die Gestaltungen als etwas Fremdes empfunden, können ihnen
gegenüber Willensregungen aufspringen, kann neues Karma für neue Gestaltungen
entstehen. Solange aber wird auch das Leiden existieren. Wer daher die
Buddhalehre wirklich begriffen hat, strebt nicht nach Wiedergeburt in dieser
oder jener Welt - er ist dabei, die Daseinsfessel zu sprengen.