Das Licht der Lehre

von Sri Gnanawimala Maha Thero

5. ANICCA Vergänglichkeit



Zu den zentralen Aussagen der Buddhalehre gehört die Vergänglichkeit alles Seienden.

erkannte der Buddha als die drei wesentlichen Daseinsmerkmale, denen jede Existenz unterworfen ist. Unter diesen nun scheint das Merkmal Vergänglichkeit die augenfälligste und am leichtesten zu begreifende Tatsache zu sein. Kein einsichtiger Mensch zweifelt an der Unbeständigkeit aller Dinge, und die Feststellung "Nichts hat ewigen Bestand" klingt fast schon banal, wird sie doch tagtäglich durch zahllose Erfahrungen immer wieder neu bestätigt. Demgegenüber wird das Daseinsmerkmal Leidhaftigkeit häufig nur als eine subjektive und nicht allgemeingültige Deutung des Daseinsbefindens verstanden, und das Merkmal Unpersönlichkeit schließlich entzieht sich fast völlig dem Verständnis des Weltmenschen.


Nun hängen aber die drei Daseinsmerkmale derart zusammen, daß man sie alle drei in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit sehen muß, um ein realistisches Verständnis des Daseinsprozesses zu gewinnen. Vergänglichkeit ist ein unumstößliches universelles Gesetz allen Daseins. Nichtverstehen dieses Gesetzes führt zur Annahme einer unsterblichen Seele, zum Persönlichkeitsglauben, zum Ich-Wahn. Das allgemeinste Symptom dieses Wahnes aber ist das Leiden. Und umgekehrt: Wird das Gesetz der Vergänglichkeit in seinem tiefsten Sinngehalt begriffen, findet der Persönlichkeitsglauben keinerlei Stütze mehr. Mit der Aufhebung des Ich-Wahnes aber wird auch dem Leiden ein Ende bereitet.


Mit anderen Worten: tiefes Verständnis der Vergänglichkeit ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Befreiung vom Leiden. Nun werden wir durch gedankliche Reflexion allein dieses tiefe Verständnis niemals erreichen, hierzu ist Meditation erforderlich. Aber ein wenig Vorarbeit wollen wir doch heute leisten, indem wir einmal versuchen, unsere eigene Erfahrung von Vergänglichkeit bewußt zu machen und die Konsequenzen dieser Erfahrung zu durchdenken. Die Lehre des Erhabenen wird uns bei unserem Bemühen ein verläßlicher Wegweiser sein und unser Augenmerk mehr und mehr auf die wesentliche Seite des Problems lenken, damit wir aufnahmefähiger werden für die tiefgründige Lektion, die nur die Wirklichkeit selbst erteilen kann.

Nehmen wir einmal ein konkretes Ding, beispielsweise ein Haus, und betrachten seine Daseinsgeschichte. Ohne Zweifel bilden die losen Elemente wie Steine, Eisenträger, Bretter, Zement usw., die für den Bau bereitgestellt sind, in ihrer Gesamtheit noch kein Haus. Erst wenn die Bauarbeiter die einzelnen Teile sinnvoll zusammenfügen, entsteht durch den Verbrauch dieser Elemente und der Arbeitskraft der Arbeiter nach und nach ein nützliches Ding, das wir als solches erkennen, benennen und in Gebrauch nehmen können: das Haus.

Diesen Vorgang des Entstehens eines Dinges können wir in allen Einzelphasen beobachten, aber wir können nicht den genauen Zeitpunkt angeben, zu dem das Ding nun wirklich ins Dasein trat. Es war nicht plötzlich da, sondern es entstand allmählich. Wenn wir nun das Haus bezogen und längere Zeit in ihm gewohnt haben, stellen wir mancherlei Veränderungen an ihm fest. Es wird unansehnlich, Putz bröckelt ab, Steine lockern sich, Reparaturen werden erforderlich. Bei all diesen Veränderungen aber bleibt das Haus doch weiterhin ein Haus; das Ding wandelt sich, aber es bleibt weiterhin als Ding bestehen. Eines Tages aber, nach langer Zeit, ist das Haus so baufällig, daß niemand mehr in ihm wohnen kann. Es zerfällt mehr und mehr, seine Mauern stürzen ein, die Ruine verwittert zum Schuttberg, das Haus existiert nicht mehr. Niemand aber kann den genauen Zeitpunkt nennen, zu dem das Haus sein Dasein beendete, es verschwand eben allmählich, indem es sich in seine Elemente auflöste.

Unsere tägliche Erfahrung zeigt nun, daß sowohl alle unbelebten Dinge wie auch alle lebenden Organismen eine ganz ähnliche Daseinsgeschichte durchlaufen, wobei wir drei wesentliche Phasen unterscheiden können:

  1. Entstehen oder Geburt,
  2. Wandlung des Bestehenden oder Entwicklung,
  3. Vergehen oder Tod.


Ebenso lehrt der Buddha:

"Drei Merkmale des Bedingt-Entstandenen gibt es, ihr Mönche. Welche drei? Entstehen zeigt sich, Vergehen zeigt sich, und eine Veränderung des Bestehenden zeigt sich. Dies sind die drei Merkmale des Bedingt-Entstandenen." (Ang. Nik. III, 47)

Weil dieser Satz sich ganz mit unserer Erfahrung deckt, meinen wir die Buddhalehre in diesem Punkt völlig verstanden zu haben. Aber haben wir das wirklich? Was meint der Buddha mit dem "Bedingt-Entstandenen" (sankhata)?

Bisher sprachen wir von Dingen, und von diesen wissen wir, daß sie nicht ohne Ursachen entstehen oder verschwinden können. Kein Ding kann ein beziehungsloses Eigenleben führen, denn seine Daseinsgeschichte ist untrennbar eingewoben in die Geschichte der anderen Dinge. Erinnern wir uns nur unseres Beispiels! Die Ruine konnte nur bedingt durch den Zerfall des Hauses entstehen; der Zusammensturz der Ruine wiederum war die Bedingung für das Entstehen des Schuttberges. Wenn etwas Neues entstehen soll, muß das Alte verschwinden.

Dies gilt für die lebenden Dinge, die Organismen, in gleicher Weise wie für die unbelebten Dinge. Damit ein Küken entstehen kann, muß zunächst ein Ei vorhanden sein, aus dem es schlüpfen kann. Die Daseinsgeschichte des Eies endet hier mit dem Schlüpfen des Kükens, gleichzeitig damit entstehen Schalenbruchstücke, also neue Dinge. Eigentlich ist uns also klar, daß alle Dinge bedingt entstehen. Oder gibt es vielleicht doch noch einen Unterschied zwischen den Dingen und dem Bedingt-Entstandenen?


Hier angelangt, werden wir plötzlich stutzig. Was verstehen wir denn eigentlich unter unseren Dingen? Was sind denn das für Gebilde, die da entstehen, sich im Bestehen wandeln und dann vergehen? - Wer diese Frage gründlich durchdacht hat, kann nur zu diesem Ergebnis kommen: Die Dinge sind ein Produkt unseres Verstandes. Dieser nämlich faßt einander ähnelnde, immer wiederkehrende Komplexe unserer Wahrnehmung zu geschlossenen Einheiten zusammen, gibt ihnen einen Namen und behandelt sie dann pauschal als Dinge.

Beispielsweise kennzeichnet der Begriff "Rose" eine ganz charakteristische und in gewissen Grenzen variable Anordnung von Seh-, Geruchs- und Tastwahrnehmungen. Dieser Wahrnehmungskomplex wird bei seinem jeweiligen Auftreten nicht mehr als Summe isolierter Signale, sondern eben als das Ding "Rose" registriert. Durch derartige Dingsetzung gliedert der Verstand das Chaos ständig wechselnder Wahrnehmungsinhalte und schafft damit eine einigermaßen überschaubare Ordnung - es entsteht die Welt der gegeneinander abgegrenzten Objekte. Tieferblickend und weitere Ursachen erkennend beschreibt der Buddha diesen Vorgang so:


"Durch Auge und Sichtbares bedingt entsteht Sehen, hierbei entsteht Berührung. Bedingt durch Berührung entsteht Empfindung. Was man empfindet, das nimmt man wahr, was man wahrnimmt, davon bildet man Begriffe, wovon man Begriffe gebildet hat, das breitet man aus als Außenwelt." (Majjh. Nik. 18)


Im Grunde genommen bilden die Dinge also gar keine eigentlichen Wesenheiten; es sind geistig gestaltete Wahrnehmungskomplexe, die selbst wiederum Empfindungen zur Grundlage haben. Empfindungen aber setzen ihrerseits einen sensiblen Organismus voraus, also Körperlichkeit und Bewußtsein.

Die Erkenntnis, daß die Dinge nicht von vornherein da sind, sondern erst durch den Beobachter als solche definiert werden müssen, ist nun schon zweieinhalbtausend Jahre alt.

Die westliche Wissenschaft gelangte erst in jüngster Zeit und nach vielen Umwegen zur gleichen Erkenntnis. Experimente der Ouantenphysik führten zur Einsicht, daß die Eigenschaften, die man einem Teilchen zuschreibt, erst durch den Akt der Beobachtung zustandekommen.

Jede Beobachtung ist selbst ein physikalischer Prozeß; was man bei einem Experiment beobachtet, ist daher nicht das Teilchen selbst, sondern die W i r k u n g, die das Experiment an den Sinnesorganen oder Meßapparaten hervorbringt.

Der exakt definierte wissenschaftliche Begriff W i r k u n g als Energiefluß (Wirkung = Energie * Zeit) trifft genau den Charakter des Bedingt-Entstandenen. Aber auch im normalen Sprachgebrauch setzt dieser Begriff das Bedingt-Entstandene und die Vergänglichkeit in eine notwendige Beziehung. Erstens nämlich ist klar, daß jede Wirkung nur als Folge von Ursachen gedacht werden kann, ihr Auftreten daher bedingt sein muß, wobei das Bedingt-Entstehende nichts anderes als die Wirkung dieser Ursachen darstellt. Zweitens aber sind Wirkung und Vergänglichkeit untrennbar miteinander verbunden, denn jede Wirkung kann sich ja nur durch eine Veränderung des Bestehenden zeigen und ist losgelöst von dieser überhaupt nicht denkbar. Bedingte Entstehung und Vergänglichkeit finden also im Begriff Wirkung ihren gemeinsamen Nenner.


Die universelle Energie, welche in unablässigem Fließen fortgesetzte Veränderung bewirkt und dadurch immer neue Gestaltungen schafft, heißt im Buddhismus KARMA (=Wirken). Der Buddha unterschied die Gesamtheit der Wirkungen, die bei diesem Energiefluß auftreten, in fünf Klassen, nämlich in Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, geistiges Gestalten und Bewußtsein. Außerhalb dieser sogenannten Daseinsgruppen gibt es weder aktives Wirken noch passiv erfahrbare Wirkungen; in ihnen erschöpft sich daher die gesamte Wirklichkeit oder das Dasein. Und dieses Dasein ist seiner innersten Natur nach ein unablässiges Sich-Wandeln, Verändern, Umgestalten - ein Prozeß unaufhaltsamer Vergänglichkeit.


"Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformation und Bewußtsein, ihr Mönche, sind vergänglich. Was es aber für das Entstehen dieser Gruppen an Bedingungen und Ursachen gibt, auch diese sind vergänglich. Nun erst das durch Vergängliches Entstandene - wie sollte das beständig sein!" (Sam. Nik. XXII, 18)


Halten wir hier einen Augenblick inne und überdenken noch einmal die Schritte, die uns zu diesem Ergebnis geführt haben! Wir gingen aus von der offensichtlichen Unbeständigkeit der Dinge, d.h. der äußeren Objekte. Tieferblickend erkannten wir, daß diesen Objekten gar keine eigene Wesenheit zukommt, sondern daß sie Produkte des Verstandes bzw. geistige Gestaltungen sind, die auf Wahrnehmungen beruhen. Aber auch die Wahrnehmungen stellen keine primären Gegebenheiten dar; sie beruhen auf Empfindungen, die ihrerseits Körperlichkeit und Bewußtsein voraussetzen.

Alle diese körperlichen und geistigen Funktionen, welche das gesamte Dasein ausmachen, entstehen bedingt; es sind Wirkungen einer Energie, Resultate des reifenden Karmas.

Der Daseinskreislauf gleicht in vieler Hinsicht einem Stromkreislauf. Im Stromkreislauf wird elektrische Energie z.B. in Wärme, magnetische Kraftwirkung oder chemische Arbeit umgesetzt, im Daseinskreislauf heißen die entsprechenden Wirkungen der karmischen Energie Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewußtsein. Wir können den Vergleich aber noch weitertreiben: Elektrische Wirkungen sind das Produkt zweier Größen, Spannung und Strom. Wenn keine Spannung vorhanden ist, kann normalerweise kein Strom fließen; auf keinen Fall aber kann eine Wirkung entstehen.

Da nun jede Wirkung einen Energieverbrauch darstellt und dem Kreislauf Energie entzieht, würde dieser nach kurzer Zeit zum Stillstand kommen, wenn nicht fortwährend eine Energiepumpe neue Energie erzeugen würde. Diese Funktion erfüllt im Stromkreislauf der Generator, der zwischen Plus- und Minuspol ständig eine Spannung aufrechterhält, die als treibende Kraft den Kreislauf in Gang hält. -

Ganz ähnlich im Daseinskreislauf: Damit karmische Energie die genannten Wirkungen wie Körperlichkeit, Gefühl usw. hervorbringen kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Karmaformation, d.h. früher gewirktes Karma muß vorhanden sein, gleichzeitig muß aber auch ein Energiegefälle, eine Spannung bestehen, welche das Karma zum Fließen bringt. Diese Spannung zeigt sich auch im Daseinsstrom in einer Polarisierung; Plus- und Minuspol heißen hier Ich und Umwelt. Der Generator, der diese Polarisierung aufrechterhält und dabei ständig neue karmische Energie in den Daseinskreislauf pumpt, heißt im Buddhismus Begehren, Lebensdurst oder tanhā. Gäbe es dieses Begehren nicht, so würde in kurzer Zeit das aufgehäufte Karma sich in seinen Wirkungen aufgezehrt haben und der Daseinsprozeß zum Erliegen kommen. So aber wird mit jedem durch Begehren ausgelösten Willensakt neue karmische Energie erzeugt - der Kreislauf unterhält sich selbst.


Noch eine weitere aufschlußreiche Analogie besteht zwischen beiden Kreisläufen: Neben Spannung und Strom gibt es noch eine dritte elementare Größe, den 'Widerstand. Der elektrische Widerstand hemmt den Strom, indem er die Stromteilchen, die Elektronen, festzuhalten versucht und sie in ihrer Bewegung hindert. Dabei entsteht Reibung und es entwickelt sich Hitze.

Ganz wie im Daseinskreislauf! Auch hier gibt es einen solchen Widerstand, ein Ergreifen, Festhalten und Anklammern an einzelne Partikel des Daseinsstromes. Es ist der aussichtslose Versuch, die Vergänglichkeit zu überlisten, das endlose Dahinschwinden der Gestaltungen aufzuhalten, festen Boden unter die Füße zu kriegen, um nicht selbst in den Strudel der Vergänglichkeit gerissen zu werden. Dieses Sich-Stemmen gegen das Unvermeidliche, Fassenwollen des Nichtfaßbaren, Begreifenwollen des Unbegreiflichen erzeugt Reibung, und diese Reibung erleben wir als Leiden.


"Was nun, ihr Mönche, ist das Leiden? ,Die fünf Gruppen des Anhaftens' wäre zu antworten. Welche fünf? Die Gruppen des Anhaftens Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformation und Bewußtsein." (Sam. Nik. XXII, 104)


Mit unserem Vergleich sind wir jetzt an einem Punkt angelangt, wo sich der wesentliche Unterschied zwischen Stromkreislauf und Daseinskreislauf zeigt: Ersterer stellt für uns ein äußeres Objekt dar; in letzterem stecken wir mitten drin, wir erleben ihn in unserem Bewußtsein. Die Polarisierung des Daseins beobachten wir nicht von außen, wir haben sie unmittelbar zu erleiden.

Ständig versuchen wir, die unerträgliche Spannung des gespaltenen Bewußtseins zu verringern. Wodurch? Am Ich haftend langen wir begehrlich zum anderen Pol, der Umwelt, hinüber und suchen ihn in Besitz zu nehmen, durch körperliches Er-greifen und geistiges Be-greifen. Aber im Strudel der Vergänglichkeit zerrinnt unaufhaltsam immer wieder alles Ergriffene und Begriffene. Was sollte es denn auch Dauerhaftes zu ergreifen geben?

Die fünf Daseinsgruppen sind, wie wir gesehen haben, pure Vergänglichkeit. Was im Fluß der Erscheinungen einigen Bestand zu haben scheint, verdankt seine flüchtige Existenz ja nur seinem Namen, dem Begriff - und auch dieser ist nichts als das Resultat eines Greifaktes. Selbst das Ich erweist sich bei näherem Hinsehen als bloßer Begriff, zudem noch als ein völlig leerer. Denn im Gegensatz zu allen Ding-Begriffen, denen doch immerhin erfahrbare Wahrnehmungskomplexe zugrunde liegen, entbehrt dieser Begriff auch der geringsten Erfahrungsgrundlage. Beim Ich nämlich gibt es gar nichts zu erfahren; es ist das gedachte Subjekt, das sämtlichen Objekten, also allem überhaupt Erfahrbaren, nackt gegenübersteht, ein ideelles Vakuum also,' ein Nichts, eine pure Illusion. In dieses Ich-Vakuum aber ergießt sich die Fülle ergriffener Gestaltungen wie in einen bodenlosen, unersättlichen Schlund, ohne ihn je erfüllen zu können.,


Das also ist die Lage: An eine Illusion geklammert, versuchen wir in fortgesetzten Greif- und Haftprozessen die Vergänglichkeit aufzuhalten, und das einzig wirklich Konkrete, was wir dabei zu fassen kriegen, ist Leiden. Die Situation entbehrt nicht einer gewissen Komik; man könnte darüber lachen, wäre das Leiden, das wir infolge dieses irrsinnigen Kreislaufes erleiden müssen, nicht so bitter. Woran liegt es, daß wir nicht schon längst aus diesem Karussell ausgestiegen sind und dem Leiden ein Ende gemacht haben? Am Nichtwissen, sagt der Buddha. Am Nichtverstehenkönnen, daß Dasein ein bedingt entstandener Prozeß ist, in allen seinen Phasen den Gesetzen alles Bedingt Entstandenen folgen muß und daher notwendig vergänglich, leidhaft und ohne ein Selbst ist.


"Tiefgründig, Ananda, ist die Bedingte Entstehung, und auch tiefgründig erscheint sie. Eben infolge des Nichterkennens, Nichtdurchdringens dieses Gesetzes gleicht die Menschheit einem verwirrten Fadenknäuel, einem Vogelneste, einem Schilf- und Röhrichtgestrüpp, und der Mensch entrinnt nicht dem niederen Dasein, den Leidensfährten, der verstoßenen Welt, nicht dem Kreislauf der Wiedergeburten." (Digha-Nik. 15)


Dasein ist ein auf Bedingungen und Ursachen beruhender und nach erkennbaren Gesetzen ablaufender Prozeß. Man kann diese Gesetze herausfinden, indem man mit dem Dasein experimentiert. Läßt man z.B. den Widerstand des Kreises durch starkes konzentratives Anhaften an ein einzelnes Objekt sehr groß werden, so verschwindet der übrige Strom der Gestaltungen - dieses Experiment heißt samatha-Meditation.

Läßt man umgekehrt den Widerstand sehr klein werden, indem man allmählich alle Verhaftungen aufgibt, dann lösen sich schließlich alle Gestaltungen in einen kraftvollen, leuchtenden Strom vibrierender Bewußtseinsschwingungen auf - das Experiment der vipassanā - Meditation.

Die Experimente werden nicht hundertprozentig gelingen, weil wir uns weder hundertprozentig konzentrieren noch ablösen können. Aber sie werden die alltägliche Erfahrung verdeutlichen, daß angespannte Konzentration das Bewußtsein einengt und den Wahrnehmungsstrom verringert, während entspannte Loslösung das Bewußtsein öffnet und für subtilere Wahrnehmungen empfänglich macht.

Worauf hier nur hingewiesen werden soll: völlig analoge Verhältnisse herrschen in j e d e m Energiekreis. Was wir realisieren müssen, ist die Tatsache, daß Dasein ein mit Bewußtsein verbundener, aber völlig seelenloser Prozeß ist, der als ganzer den gleichen Gesetzen unterliegt wie jedes Teilgeschehen in ihm.

Solange wir dies nicht einsehen, vermuten wir hinter dem Phänomen Leben einen geheimen Sinn, eine höhere Kraft, einen Weltbeweger, eine Seele, ein Selbst oder wie immer wir es nennen.

Deshalb begehren wir nach mystischen Erlebnissen, transzendenten Erfahrungen, absoluten Erkenntnissen - und verstehen doch nicht einmal die einfachsten Vorgänge um uns herum. In Unkenntnis des universellen Gesetzes der bedingten Entstehung, welches uns mit unabweisbarer Konsequenz zum zielbewußten Wirken führen kann, brauchen wir das Gängelband der Gebote, Regeln und Riten. Weil wir an unseren Illusionen hängen, bezweifeln und verdrängen wir jede Erfahrung, welche die Täuschung aufdecken könnte.

Der ideologische Plunder, an dem wir blind glauben und haften, hindert uns daran, einfach die Augen aufzumachen und zu sehen, wie die Dinge wirklich sind. Wer das Dasein nicht kennt, hängt an ihm, und wer an ihm hängt, muß die Vergänglichkeit fürchten. Wer aber, wach und klar geworden, sich von allen Zweifeln hinsichtlich der Welt befreit hat, für den wird das letzte Ausschwingen im Daseinsstrom des Werdens und Vergehens ein Hinübergleiten in unbegrenzte Freiheit sein.


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