Das Licht der Lehre

von Sri Gnanawimala Maha Thero

3. Gesellschaft und Geistesdisziplin

Die Menschheit hungert seit Jahrtausenden nach sozialem Frieden und nach Sicherheit, ohne diesem Ziel erkennbar näher gekommen zu sein. Gesellschaftssysteme entstanden und vergingen, Eroberungs- und Befreiungskriege wurden geführt, Millionen Menschen verbluteten auf den Schlachtfeldern für diese oder jene Idee - aber der uralte Wunsch der Menschen nach einem friedlichen und gesicherten Leben in einem Paradies sozialer Gerechtigkeit hat sich nicht erfüllt.

In unserer Welt der Rassen- und Klassengegensätze, in der Besitz als Freibrief zur Ausplünderung der Besitzlosen dient, in der eine rücksichtslose Ausschlachtung und Vergiftung der Umwelt das Überleben der nächsten Generation fraglich macht, In der Hunderttausende von toten und Krüppeln das Blutopfer des Fortschritts bilden, in der Gewalt bestimmt, was man unter Freiheit zu verstehen hat, in der aus Machtgier selbst vor Völkermord nicht zurückgeschreckt wird - in einer solchen Welt schreien die einen nach Ruhe und Ordnung, die anderen nach Revolution, einige steigen auf die Barrikaden, aber die meisten haben längst resigniert, wollen von "all dem" nichts mehr wissen und lassen sich willenlos treiben.


Als Buddhisten werden wir aber weder blind reagieren, noch werden wir nur herum lamentieren, noch werden wir die Augen verschließen. Wir müssen vielmehr das Problem Gesellschaft wie jedes andere vorurteilslos untersuchen, es in seiner Widersprüchlichkeit erfassen, unsere eigenen Kräfte abschätzen und dann zielbewußt handeln.

Sehen wir uns zunächst einmal die gängigen Gesellschaftstheorien an! - Es gibt zwei sich widersprechende Ansichten darüber, wie die Welt zu verbessern sei: die eine lehrt, daß zuerst der gesellschaftliche Rahmen geändert werden müsse, damit sich der Mensch in Frieden und Wohlstand entwickeln könne; die andere fordert zuerst die Änderung des Menschen, aus der dann notwendig die Gesundung der Gesellschaft folge. Wenn wir das Problem schärfer fassen, sehen wir, daß es sich im Grunde um den Widerspruch Ich-Umwelt handelt, und daß der unterschiedliche Praxisansatz beider Anschauungen auf einer unterschiedlichen Interpretation dieses Widerspruchs beruht:


Die eine Seite setzt die Welt als primär vorhanden voraus, der Mensch wird in sie hinein geboren. Deshalb ist er durch sie bedingt und bestimmt, und eine Änderung seiner selbst ist nur mittels einer Änderung der äußeren Bedingungen durch die Praxis möglich. Hier bestimmt die Umwelt das Ich, das Sein, das Bewußtsein. Dies ist der Standpunkt des Materialismus. Die andere Seite begreift die Welt als subjektive Gestaltung des Individuums. Grundlage alles Seienden ist hiernach der Geist, der entsprechend seinem Ordnungsvermögen die Welt konstruiert und nach außen projiziert. Die Welt ist nicht von Anfang an da, sondern sie ist Resultat eines subjektiven geistigen Prozesses; sie entsteht mit der Person, entwickelt sich mit ihr und geht mit ihr zugrunde. Deshalb bestimmt hier das Ich die Umwelt, das Bewußtsein, das Sein. Dies ist der Standpunkt des Idealismus.

Beide Anschauungen, Materialismus wie Idealismus, sind als Arbeitshypothesen für die Verbesserung der Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen brauchbar, aber für sich genommen vermag keine das Daseinsproblem umfassend zu lösen. Ihre Schwäche und Gefahr liegt vor allem in der dogmatischen Fixierung auf jeweils nur eine Seite des Grundwiderspruchs Bewußtsein-Sein. So polarisiert, stehen sich Materialismus und Idealismus in Gesellschaftsfragen wie Todfeinde gegenüber, wodurch ihr ursprünglicher Ansatz, das Dasein für alle erträglicher und menschlicher zu gestalten, unerfüllt bleiben muß.
Der dogmatische Materialismus vergißt über dem Fetisch Gesellschaft das konkrete lebendige Individuum mit seinen Hoffnungen, Wünschen und Ängsten. Die Gesellschaft entartet zum Selbstzweck, zum alles beherrschenden Dämon, dem der Mensch zu dienen hat. Kritik wird nur noch in einem Rahmen geduldet, der das System selbst nicht infragestellt. Eine Revision der Grundkategorien gilt als Verrat an der Allgemeinheit. So trägt der dogmatische Materialismus den Keim der geistigen Erstarrung und der gesellschaftlichen Stagnation in sich.

Die Einbeziehung der Dialektik in die moderne materialistische Weltanschauung stellt nun zweifellos einen erheblichen Fortschritt dar, der prinzipiell eine weitere positive Entwicklung des gesellschaftlichen Rahmens auf wissenschaftlicher Grundlage ermöglicht. Die politische Wirklichkeit lehrt aber, daß die inkonsequente Anwendung der Dialektik zu neuen gefährlichen Widersprüchen unter den Materialisten selbst führt. Wo nämlich die dialektische Kritik durch die materialistische Perspektive bereits vorbelastet ist, kann sie nicht bis zum Grundwiderspruch Bewußtsein-Sein vordringen. Halbe und tendenziöse Dialektik aber, die nur zur Stabilisierung weltanschaulicher Dogmen dient, befindet sich im Widerspruch zu sich selbst.


Die andere Anschauung, der Idealismus, propagiert für jeden Menschen alle geistigen Entfaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten; "Freiheit" ist das große Schlagwort. Dabei wird geflissentlich übersehen, daß die elementaren Bedürfnisse der Massen zunächst nicht im geistig-kulturellen Bereich liegen, sondern daß Freiheit zuallererst Freisein von Existenzangst bedeutet. Solange die breite Masse des Volkes seine Lebenskraft für die Beschaffung von Nahrung, Kleidung und Wohnraum aufbraucht, so lange wird die geistige Entwicklung das Privileg einer Minderheit sein.

Der Idealismus ist der beste Nährboden für die Entstehung elitärer Theorien, die in der Klassenstruktur der Gesellschaft mit ihren irrationalen Konsum- und Leistungszwängen ihren Niederschlag finden. Geistige Bildung, materieller Besitz und politische Macht werden mehr und mehr zum Vorrecht einer Elite, die sie zur Bevormundung, Ausplünderung und Niederhaltung der breiten Volksmassen mißbraucht. Ihre weltanschauliche Stütze finden solche Systeme durch die Glaubensreligionen, die die Sehnsucht nach einem sinnvollen und erfüllten Dasein auf ein "Jenseits" umlenken und das gesellschaftliche Elend als unerforschlichen Ratschluß eines letzten Geist-Schöpfers, einer göttlichen Autorität deuten.


Fassen wir noch einmal kurz zusammen: Das Problem Individuum - Gesellschaft läßt sich stufenweise schärfer fassen, zunächst im Widerspruch Ich-Umwelt, dann noch allgemeiner im Widerspruch Subjekt - Objekt, und schließlich im Grundwiderspruch Bewußtsein - Sein, gewöhnlich auch als Gegensatz von Geist und Materie bezeichnet. Der Materialismus lehrt, daß die Materie die Grundlage des Geistes sei; der Idealismus sieht den Geist als Schöpfer der Materie. Beide Ansichten neigen zum Dogmatismus und zeigen in ihrer gesellschaftspolitischen Anwendung keine ausreichende Perspektive zur umfassenden Selbstverwirklichung des Menschen.


Der Buddhismus ist nun weder eine materialistische noch eine idealistische Philosophie, sondern eine Wirklichkeitslehre. Diese Lehre hat eine unangreifbare Ausgangsbasis: die unmittelbare Erfahrung, die in jedem Augenblick Ausdruck der Wirklichkeit ist. Daß Erfahrung da ist, braucht nicht erst bewiesen zu werden; Erfahrung beweist sich durch ihr faktisches Vorhandensein selbst, sie ist evident.


Wie Erfahrung, so eben Wirklichkeit. Wirklichkeit ist ja nichts anderes als die Summe dessen, was als Wirkendes erfahren wird, sei es bewußt oder unbewußt. Was aber wirkt, das verändert auch, und eben diese Veränderung tritt in einer neuen Wirklichkeit in Erscheinung, die ihrerseits wieder wirkt und so fort. Deshalb befinden sich Wirklichkeit und Erfahrung in einem ununterbrochenen Fluß der Veränderung, des Werden und Vergehens. Nichts hat in diesem Fluß Bestand, kein ruhender Punkt ist zu finden. Alles beeinflußt alles, alles hängt untrennbar mit allem zusammen.


Die Vorstellung, daß in diesem Fluß so etwas wie eine materielle Substanz von Anfang an existierte, ist eine willkürliche intellektuelle Spekulation, die jeder Erfahrung entbehrt. Sie ist ebenso metaphysisch wie die Vorstellung vom materieschaffenden Geist. Niemand wird behaupten, Links existierte schon vor Rechts oder Oben hätte Unten geschaffen. Aber hier, auf der Suche nach einer "letzten Ursache", fallen Materialisten wie Idealisten der gleichen Täuschung zum Opfer: sie verwechseln Begriffswelt und Wirklichkeit. Begriffe haben eben nur eine relative Bedeutung, sie dienen der Orientierung. Die Begriffswelt ist aber nicht die Wirklichkeit; Wirklichkeit und Begriffswelt verhalten sich zueinander etwa wie Stadt und Stadtplan. Ein falscher Stadtplan führt in die Irre, ebenso falsches Denken, das sich von der Erfahrungsgrundlage gelöst und verselbständigt hat.

Die Entwicklung wirklichkeitsgemäßen Denkens nimmt deshalb im Buddhismus einen hervorragenden Platz ein: Geistesdisziplin ist die Grundlage des wissensklaren Handelns. Der buddhistische Weg zur umfassenden Veränderung der Gesellschaft ist der von Buddha gelehrte Achtfache Edle Pfad. Der erste Schritt auf diesem Pfad beginnt mit Rechter Erkenntnis, das heißt mit einem qualitativen Umbruch und einer Neuorientierung des Denkens. Vor diesem entscheidenden Wendepunkt arbeitet das Denken noch unentwegt an der Vervollständigung seiner Begriffswelt und an der weiteren Differenzierung des Intellekts. Hierbei bleibt zunächst unbemerkt, daß nach und nach die direkte Erfahrung, die unmittelbare Anschauung immer weiter zurückgedrängt wird und sich im Bewußtsein mehr und mehr das spekulative Begriffsdenken ausbreitet.

Mit fortschreitender Entwicklung wachsen aber die Widersprüche zwischen Begriffswelt und Wirklichkeit, zwischen den Ansprüchen und Motiven des Ichs und den Bedingungen der gesellschaftlichen Umwelt. Der Intellekt widerspiegelt den drohenden Bruch mit einer zunehmenden Ideologisierung des Denkens. Neue Erfahrungen werden immer häufiger nur noch dann akzeptiert, wenn sie in den Rahmen vorgefaßter Begriffsschemen passen. Das bedrohte Ich stabilisiert sich durch eine zunehmende Einkapselung in der Begriffswelt, der Kontakt zur Wirklichkeit geht verloren. Schließlich wird das Bewußtsein von einem unablässigen Strom von Begriffen regelrecht blockiert; Denken wird zu einem Zwangsvorgang, der auch willentlich nicht mehr unterbrochen werden kann. In dieser Phase erkennt der Geist plötzlich klar die Leidhaftigkeit des Daseins als ein Abgeschnittensein von der Wirklichkeit: die Quantität des intellektuellen Wissens schlägt um in die Qualität der Rechten Erkenntnis.

Dem Umbruch im Denken folgt im zweiten Glied des Edlen Pfades die Rechte Gesinnung. Rechte Gesinnung findet ihre Neubestimmung nicht durch ethische Erwägungen oder durch die Übernahme moralischer Dogmen. Entscheidend ist der Entschluß, dem Leiden in allen seinen Erscheinungsformen, besonders auch dem gesellschaftlichen Elend energisch entgegenzutreten und das Vertrauen, es schließlich zu überwinden. Vertrauen und Willenskraft sind die geistigen Waffen, die magische Vorstellung von der Allmacht des Leidens zu zerbrechen und Raum zu schaffen für die Erkenntnis seiner bedingten Natur: Leiden als abhängige, naturgesetzliche und blinde Folge verblendeten Wirkens (KAMMA oder Karma).

 

Die nächsten drei Glieder des Achtfachen Edlen Pfades, nämlich Rechte Rede, Rechte Tat und Rechter Lebenserwerb, betreffen direkt die gesellschaftliche Praxis. Gesellschaft ist hier aber nicht nur zu verstehen als abstrakter sozioökonomischer Verband, dessen Struktur erst durch die Umpolung bestehender Herrschaftsverhältnisse geändert werden kann. Wieder wird die Gefahr sichtbar, die in der Möglichkeit der Verwechslung von Begriffswelt und Wirklichkeit liegt. Wer seine Praxis nicht aus den Bedingungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern aus der ideologischen Interpretation derselben ableitet, dessen Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft bleibt entweder in der Propagierung utopischer Zielvorstellungen stecken oder endet im sinnlosen Amoklauf.

Buddhistische Geistesdisziplin bewirkt eine Abkehr des Denkens von allen übernommenen, halbdurchdachten Vorstellungen und ungeprüften Urteilen. Geistesdisziplin zwingt zum Verlassen dogmatischer Positionen und stößt den Geist, der sich an Begriffe klammern will, unbarmherzig immer wieder in die Wirklichkeit. Und hier in der Wirklichkeit, löst sich das Abstraktum "Gesellschaft" in ganz konkrete Beziehungen zum Mitmenschen auf. Die Gesellschaft ist für jeden zuallererst da, wo er selbst ist. Wenn ich nicht jetzt und hier etwas ändere, dann nie und nirgendwo.

 

So lange Denken sich noch im Ich-Bewußtsein gegen Umwelt und Gesellschaft abgrenzt, so lange ist Wirklichkeit notwendigerweise gesellschaftliche Wirklichkeit, und jede Lebensäußerung des Ichs kann letztlich gar nichts anderes sein als gesellschaftliche Praxis.

Ob diese aber nur im schwächlichen, halbbewußten und blinden Reagieren besteht oder zum kraftvollen, wissensklaren und zielbewußten Wirken wird, entscheidet der Entwicklungszustand des Geistes, der Grad an Geistesdisziplin.

Geistesdisziplin schärft nicht nur den Blick für die Widersprüche und Bewegungsgesetze der sog. objektiven Außenwelt, sondern erkennt auch den Widerstreit der inneren Handlungsantriebe, der Motive des Ichs.

Der Buddhist ist sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen bewußt, aber er vermag auch seine positiven Kräfte richtig einzuschätzen. Er bildet sich nicht ein, im großen politischen Rahmen die Welt verbessern zu können, wenn er schon mit sich selbst, mit seiner Familie und mit seinen Arbeitskollegen in Unfrieden lebt. Aber er kämpft Tag für Tag für eine Verbesserung dieser unbefriedigenden Wirklichkeit. Der Erfolg mag anfangs gering sein, aber er bringt doch mit Sicherheit eine bessere Ausgangsposition für den nächsten Schritt.

Wer meint, daß dieser Kampf allenfalls eine "kleine heile Welt" zustande bringt und "im Grunde doch nichts ändert", hat nicht begriffen, was Wirklichkeit ist. Denn wenn schon das dialektische Denken die Wirklichkeit in Ich und Umwelt spaltet, so bleibt doch zumindest das empfindende und handelnde Ich Erfahrungszentrum und Aktionsquelle seiner Umwelt, nur mit dieser kann es in Wechselwirkung treten und in eben dieser Wechselwirkung liegt seine ganze Wirklichkeit beschlossen. Wer den Begriff "Obst" für wesentlicher und realer hält als den Apfel, in den er gerade beißt, dem ist schwer zu helfen. Wer sich selbst nicht kennt und die eigenen Schwierigkeiten auf immer allgemeinere, umfassendere, "objektive" Problemkreise projiziert, dem verschwimmt bald jeder brauchbare Praxisansatz.

Das dilettantische Herumbasteln an neuen Gesellschaftsformen ist ein Ausdruck dieser verkannten und verdrängten Wirklichkeit, manchmal auch eines gelinden Größenwahns. Das heißt natürlich nicht, daß jede politische Praxis in größerem Rahmen sinnlos wäre, aber sie eignet sich eben nicht als Beschäftigungstherapie für Neurotiker. Gesellschaftliche Praxis beginnt mit der Änderung des eigenen Verhaltens, beginnt beim Ich. Die Gesellschaft wird zunächst nur mit einer positiven Resonanz in der nächsten Umgebung antworten. Mit wachsendem Vertrauen und wachsenden Kräften verbreitert sich aber nach und nach das Wirkungsfeld, und es gibt hervorragende Buddhisten, die ihre Fähigkeiten sinnvoll für das ganze Volk nutzbar machen können.
Die Wirklichkeitslehre Buddhismus umfaßt den ganzen Menschen und seine ganze Wirklichkeit, und die Praxis des Edlen Pfades ist Wirklichkeitsveränderung von umfassender Gründlichkeit.

Betrafen die vorigen Pfadglieder die Praxis unter dem Hauptaspekt der Veränderung der Umwelt, so dienen die letzten drei Pfadglieder Rechte Anstrengung, Rechte Achtsamkeit und Rechte Sammlung der Veränderung des Ichs. Dies sind die Pfadglieder, mit denen die Entfaltung der Geistesdisziplin erreicht werden kann. Und hier, in einem mit Ruhe, Klarheit und Konzentration gesegneten Augenblick, mag es einem plötzlich wie Schuppen von den Augen fallen:

Diese Gesellschaft ist nicht zufällig unsere Gesellschaft. Sie ist genau die, die unserer eigenen Entwicklung entspricht. Alle unsere Lebensumstände, auch die Gesellschaft, ja selbst unser eigenes Ich sind KAMMA (Karma), sind naturgesetzliches Resultat unseres Wirkens. Schließen wir die Augen vor dieser Tatsache, so verdrängen wir unsere eigene Realität. Die Gesellschaft bietet das getreue Spiegelbild unserer eigenen Zerrissenheit, Unzulänglichkeit und Schwäche.


Und in der Tat: Sind wir es nicht gerade, die vom materiellen Überfluß dieser Gesellschaft profitieren und nicht danach fragen, wie er zustande kommt? Sind wir nicht stillschweigend einverstanden mit der "Freiheit" des rücksichtslosen Konkurrenzkampfes, weil wir gerade die Stärkeren sind? Und fühlen wir uns etwa verantwortlich für das Heer von Verbrechern, Suchtkranken, seelischen und körperlichen Krüppeln, für die Selbstmörder und die zerbrochenen Ehen, für all die Schwachen, die an dieser Gesellschaft gescheitert sind? - Verurteilen ist leicht, Verbesserungsvorschläge machen schon schwerer, aber in der Gesellschaft unser eigenes nacktes Spiegelbild zu sehen und mit wirklicher Praxis bei uns selbst zu beginnen, fällt am schwersten.


Überhaupt müssen wir wieder sehen lernen, müssen wir uns durch das Gestrüpp der Vorurteile und Meinungen durcharbeiten zur klaren Wirklichkeitserkenntnis. Die Entfaltung von Geistesdisziplin ist der beste Weg hierzu. Sie lehrt das Denken, seine Nahrung mehr und mehr direkt aus der Erfahrung zu ziehen, ohne diese wichtigste Erkenntnisquelle durch vorschnelles Urteilen weiter zu vergiften. Denken löst sich mehr und mehr von der statischen Begriffswelt, wurzelt langsam in die Wirklichkeit ein und mündet in die wissensklare Praxis. Ob das Denken die Wirklichkeit brauchbar widerspiegelt, kann nur diese Praxis beweisen.

Aber nicht nur die Qualität des Denkens, sondern auch die der Erfahrung erfährt eine zunehmende Veränderung. Je mehr sich die Erfahrung den begrifflichen Fesseln des Intellekts entwindet, desto unmittelbarer und vollständiger entfaltet sich in ihr die Wirklichkeit. In der höchsten Stufe der Geistesdisziplin, im Hellblickswissen (Klarblickwissen), fallen Erfahrung und Denken schließlich zu einer einzigen totalen Wirklichkeitsschau zusammen. Die Abgrenzung des Bewußtseins in der Ich-Vorstellung ist durchbrochen; Ich und Umwelt erweisen sich als leere Begriffspole des Intellekts und verschmelzen zu einem einzigen Daseinsprozeß. Denken bewegt sich dann nicht länger in einer gesonderten Begriffswelt; es ist, wie Dahlke sagt, in die Wirklichkeit selbst eingeschnellt.

So öffnet sich vor uns der Weg zur friedlichen Veränderung der Gesellschaft, zur umfassenden Selbstverwirklichung des Menschen und zur schließlich völligen Befreiung von der Daseinsfessel: Es ist der Achtfache Edle Pfad, den der Buddha schor vor zweieinhalbtausend Jahren gelehrt hat.

Wenn wer auch tausend-tausend Mal
Die Feinde in der Schlacht besiegt
Wer einzig nur sein Selbst besiegt,
der, wahrlich, ist der Schlachtenheld!

(Dhammapada 103)


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