Die Menschheit hungert seit Jahrtausenden nach sozialem Frieden und nach Sicherheit, ohne diesem Ziel erkennbar näher gekommen zu sein. Gesellschaftssysteme entstanden und vergingen, Eroberungs- und Befreiungskriege wurden geführt, Millionen Menschen verbluteten auf den Schlachtfeldern für diese oder jene Idee - aber der uralte Wunsch der Menschen nach einem friedlichen und gesicherten Leben in einem Paradies sozialer Gerechtigkeit hat sich nicht erfüllt.
In unserer Welt der Rassen- und Klassengegensätze, in der Besitz als Freibrief zur Ausplünderung der Besitzlosen dient, in der eine rücksichtslose Ausschlachtung und Vergiftung der Umwelt das Überleben der nächsten Generation fraglich macht, In der Hunderttausende von toten und Krüppeln das Blutopfer des Fortschritts bilden, in der Gewalt bestimmt, was man unter Freiheit zu verstehen hat, in der aus Machtgier selbst vor Völkermord nicht zurückgeschreckt wird - in einer solchen Welt schreien die einen nach Ruhe und Ordnung, die anderen nach Revolution, einige steigen auf die Barrikaden, aber die meisten haben längst resigniert, wollen von "all dem" nichts mehr wissen und lassen sich willenlos treiben.
Als Buddhisten werden wir aber weder blind reagieren, noch werden wir nur herum
lamentieren, noch werden wir die Augen verschließen. Wir müssen vielmehr das
Problem Gesellschaft wie jedes andere vorurteilslos untersuchen, es in seiner
Widersprüchlichkeit erfassen, unsere eigenen Kräfte abschätzen und dann
zielbewußt handeln.
Sehen wir uns zunächst einmal die gängigen Gesellschaftstheorien an! - Es gibt zwei sich widersprechende Ansichten darüber, wie die Welt zu verbessern sei: die eine lehrt, daß zuerst der gesellschaftliche Rahmen geändert werden müsse, damit sich der Mensch in Frieden und Wohlstand entwickeln könne; die andere fordert zuerst die Änderung des Menschen, aus der dann notwendig die Gesundung der Gesellschaft folge. Wenn wir das Problem schärfer fassen, sehen wir, daß es sich im Grunde um den Widerspruch Ich-Umwelt handelt, und daß der unterschiedliche Praxisansatz beider Anschauungen auf einer unterschiedlichen Interpretation dieses Widerspruchs beruht:
Die eine Seite setzt die Welt als primär vorhanden voraus, der Mensch wird in
sie hinein geboren. Deshalb ist er durch sie bedingt und bestimmt, und eine
Änderung seiner selbst ist nur mittels einer Änderung der äußeren Bedingungen
durch die Praxis möglich. Hier bestimmt die Umwelt das Ich, das Sein, das
Bewußtsein. Dies ist der Standpunkt des Materialismus. Die andere Seite begreift
die Welt als subjektive Gestaltung des Individuums. Grundlage alles Seienden ist
hiernach der Geist, der entsprechend seinem Ordnungsvermögen die Welt
konstruiert und nach außen projiziert. Die Welt ist nicht von Anfang an da,
sondern sie ist Resultat eines subjektiven geistigen Prozesses; sie entsteht mit
der Person, entwickelt sich mit ihr und geht mit ihr zugrunde. Deshalb bestimmt
hier das Ich die Umwelt, das Bewußtsein, das Sein. Dies ist der Standpunkt des
Idealismus.
Beide Anschauungen, Materialismus wie Idealismus, sind als Arbeitshypothesen
für die Verbesserung der Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen brauchbar,
aber für sich genommen vermag keine das Daseinsproblem umfassend zu lösen. Ihre
Schwäche und Gefahr liegt vor allem in der dogmatischen Fixierung auf jeweils
nur eine Seite des Grundwiderspruchs Bewußtsein-Sein. So polarisiert, stehen
sich Materialismus und Idealismus in Gesellschaftsfragen wie Todfeinde
gegenüber, wodurch ihr ursprünglicher Ansatz, das Dasein für alle erträglicher
und menschlicher zu gestalten, unerfüllt bleiben muß.
Der dogmatische Materialismus vergißt über dem Fetisch Gesellschaft das konkrete
lebendige Individuum mit seinen Hoffnungen, Wünschen und Ängsten. Die
Gesellschaft entartet zum Selbstzweck, zum alles beherrschenden Dämon, dem der
Mensch zu dienen hat. Kritik wird nur noch in einem Rahmen geduldet, der das
System selbst nicht infragestellt. Eine Revision der Grundkategorien gilt als
Verrat an der Allgemeinheit. So trägt der dogmatische Materialismus den Keim der
geistigen Erstarrung und der gesellschaftlichen Stagnation in sich.
Die Einbeziehung der Dialektik in die moderne materialistische Weltanschauung stellt nun zweifellos einen erheblichen Fortschritt dar, der prinzipiell eine weitere positive Entwicklung des gesellschaftlichen Rahmens auf wissenschaftlicher Grundlage ermöglicht. Die politische Wirklichkeit lehrt aber, daß die inkonsequente Anwendung der Dialektik zu neuen gefährlichen Widersprüchen unter den Materialisten selbst führt. Wo nämlich die dialektische Kritik durch die materialistische Perspektive bereits vorbelastet ist, kann sie nicht bis zum Grundwiderspruch Bewußtsein-Sein vordringen. Halbe und tendenziöse Dialektik aber, die nur zur Stabilisierung weltanschaulicher Dogmen dient, befindet sich im Widerspruch zu sich selbst.
Die andere Anschauung, der Idealismus, propagiert für jeden Menschen alle
geistigen Entfaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten; "Freiheit" ist das große
Schlagwort. Dabei wird geflissentlich übersehen, daß die elementaren Bedürfnisse
der Massen zunächst nicht im geistig-kulturellen Bereich liegen, sondern daß
Freiheit zuallererst Freisein von Existenzangst bedeutet. Solange die breite
Masse des Volkes seine Lebenskraft für die Beschaffung von Nahrung, Kleidung und
Wohnraum aufbraucht, so lange wird die geistige Entwicklung das Privileg einer
Minderheit sein.
Der Idealismus ist der beste Nährboden für die Entstehung elitärer Theorien, die in der Klassenstruktur der Gesellschaft mit ihren irrationalen Konsum- und Leistungszwängen ihren Niederschlag finden. Geistige Bildung, materieller Besitz und politische Macht werden mehr und mehr zum Vorrecht einer Elite, die sie zur Bevormundung, Ausplünderung und Niederhaltung der breiten Volksmassen mißbraucht. Ihre weltanschauliche Stütze finden solche Systeme durch die Glaubensreligionen, die die Sehnsucht nach einem sinnvollen und erfüllten Dasein auf ein "Jenseits" umlenken und das gesellschaftliche Elend als unerforschlichen Ratschluß eines letzten Geist-Schöpfers, einer göttlichen Autorität deuten.
Fassen wir noch einmal kurz zusammen: Das Problem Individuum - Gesellschaft läßt
sich stufenweise schärfer fassen, zunächst im Widerspruch Ich-Umwelt, dann noch
allgemeiner im Widerspruch Subjekt - Objekt, und schließlich im Grundwiderspruch
Bewußtsein - Sein, gewöhnlich auch als Gegensatz von Geist und Materie
bezeichnet. Der Materialismus lehrt, daß die Materie die Grundlage des Geistes
sei; der Idealismus sieht den Geist als Schöpfer der Materie. Beide Ansichten
neigen zum Dogmatismus und zeigen in ihrer gesellschaftspolitischen Anwendung
keine ausreichende Perspektive zur umfassenden Selbstverwirklichung des
Menschen.
Der Buddhismus ist nun weder eine materialistische noch eine idealistische
Philosophie, sondern eine Wirklichkeitslehre. Diese Lehre hat eine unangreifbare
Ausgangsbasis: die unmittelbare Erfahrung, die in jedem Augenblick Ausdruck der
Wirklichkeit ist. Daß Erfahrung da ist, braucht nicht erst bewiesen zu werden;
Erfahrung beweist sich durch ihr faktisches Vorhandensein selbst, sie ist
evident.
Wie Erfahrung, so eben Wirklichkeit. Wirklichkeit ist ja nichts anderes als die
Summe dessen, was als Wirkendes erfahren wird, sei es bewußt oder unbewußt. Was
aber wirkt, das verändert auch, und eben diese Veränderung tritt in einer neuen
Wirklichkeit in Erscheinung, die ihrerseits wieder wirkt und so fort. Deshalb
befinden sich Wirklichkeit und Erfahrung in einem ununterbrochenen Fluß der
Veränderung, des Werden und Vergehens. Nichts hat in diesem Fluß Bestand, kein
ruhender Punkt ist zu finden. Alles beeinflußt alles, alles hängt untrennbar mit
allem zusammen.
Die Vorstellung, daß in diesem Fluß so etwas wie eine materielle Substanz von
Anfang an existierte, ist eine willkürliche intellektuelle Spekulation, die
jeder Erfahrung entbehrt. Sie ist ebenso metaphysisch wie die Vorstellung vom
materieschaffenden Geist. Niemand wird behaupten, Links existierte schon vor
Rechts oder Oben hätte Unten geschaffen. Aber hier, auf der Suche nach einer
"letzten Ursache", fallen Materialisten wie Idealisten der gleichen Täuschung
zum Opfer: sie verwechseln Begriffswelt und Wirklichkeit. Begriffe haben eben
nur eine relative Bedeutung, sie dienen der Orientierung. Die Begriffswelt ist
aber nicht die Wirklichkeit; Wirklichkeit und Begriffswelt verhalten sich
zueinander etwa wie Stadt und Stadtplan. Ein falscher Stadtplan führt in die
Irre, ebenso falsches Denken, das sich von der Erfahrungsgrundlage gelöst und
verselbständigt hat.
Die Entwicklung wirklichkeitsgemäßen Denkens nimmt deshalb im Buddhismus einen hervorragenden Platz ein: Geistesdisziplin ist die Grundlage des wissensklaren Handelns. Der buddhistische Weg zur umfassenden Veränderung der Gesellschaft ist der von Buddha gelehrte Achtfache Edle Pfad. Der erste Schritt auf diesem Pfad beginnt mit Rechter Erkenntnis, das heißt mit einem qualitativen Umbruch und einer Neuorientierung des Denkens. Vor diesem entscheidenden Wendepunkt arbeitet das Denken noch unentwegt an der Vervollständigung seiner Begriffswelt und an der weiteren Differenzierung des Intellekts. Hierbei bleibt zunächst unbemerkt, daß nach und nach die direkte Erfahrung, die unmittelbare Anschauung immer weiter zurückgedrängt wird und sich im Bewußtsein mehr und mehr das spekulative Begriffsdenken ausbreitet.
Mit fortschreitender Entwicklung wachsen aber die Widersprüche zwischen
Begriffswelt und Wirklichkeit, zwischen den Ansprüchen und Motiven des Ichs und
den Bedingungen der gesellschaftlichen Umwelt. Der Intellekt widerspiegelt den
drohenden Bruch mit einer zunehmenden Ideologisierung des Denkens. Neue
Erfahrungen werden immer häufiger nur noch dann akzeptiert, wenn sie in den
Rahmen vorgefaßter Begriffsschemen passen. Das bedrohte Ich stabilisiert sich
durch eine zunehmende Einkapselung in der Begriffswelt, der Kontakt zur
Wirklichkeit geht verloren. Schließlich wird das Bewußtsein von einem
unablässigen Strom von Begriffen regelrecht blockiert; Denken wird zu einem
Zwangsvorgang, der auch willentlich nicht mehr unterbrochen werden kann. In
dieser Phase erkennt der Geist plötzlich klar die Leidhaftigkeit des Daseins als
ein Abgeschnittensein von der Wirklichkeit: die Quantität des intellektuellen
Wissens schlägt um in die Qualität der Rechten Erkenntnis.
Dem Umbruch im Denken folgt im zweiten Glied des Edlen Pfades die Rechte Gesinnung. Rechte Gesinnung findet ihre Neubestimmung nicht durch ethische Erwägungen oder durch die Übernahme moralischer Dogmen. Entscheidend ist der Entschluß, dem Leiden in allen seinen Erscheinungsformen, besonders auch dem gesellschaftlichen Elend energisch entgegenzutreten und das Vertrauen, es schließlich zu überwinden. Vertrauen und Willenskraft sind die geistigen Waffen, die magische Vorstellung von der Allmacht des Leidens zu zerbrechen und Raum zu schaffen für die Erkenntnis seiner bedingten Natur: Leiden als abhängige, naturgesetzliche und blinde Folge verblendeten Wirkens (KAMMA oder Karma).
Die nächsten drei Glieder des Achtfachen Edlen Pfades, nämlich Rechte Rede,
Rechte Tat und Rechter Lebenserwerb, betreffen direkt die gesellschaftliche
Praxis. Gesellschaft ist hier aber nicht nur zu verstehen als abstrakter
sozioökonomischer Verband, dessen Struktur erst durch die Umpolung bestehender
Herrschaftsverhältnisse geändert werden kann. Wieder wird die Gefahr sichtbar,
die in der Möglichkeit der Verwechslung von Begriffswelt und Wirklichkeit liegt.
Wer seine Praxis nicht aus den Bedingungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit,
sondern aus der ideologischen Interpretation derselben ableitet, dessen Beitrag
zur Veränderung der Gesellschaft bleibt entweder in der Propagierung utopischer
Zielvorstellungen stecken oder endet im sinnlosen Amoklauf.
Buddhistische Geistesdisziplin bewirkt eine Abkehr des Denkens von allen übernommenen, halbdurchdachten Vorstellungen und ungeprüften Urteilen. Geistesdisziplin zwingt zum Verlassen dogmatischer Positionen und stößt den Geist, der sich an Begriffe klammern will, unbarmherzig immer wieder in die Wirklichkeit. Und hier in der Wirklichkeit, löst sich das Abstraktum "Gesellschaft" in ganz konkrete Beziehungen zum Mitmenschen auf. Die Gesellschaft ist für jeden zuallererst da, wo er selbst ist. Wenn ich nicht jetzt und hier etwas ändere, dann nie und nirgendwo.
So lange Denken sich noch im Ich-Bewußtsein gegen Umwelt und Gesellschaft abgrenzt, so lange ist Wirklichkeit notwendigerweise gesellschaftliche Wirklichkeit, und jede Lebensäußerung des Ichs kann letztlich gar nichts anderes sein als gesellschaftliche Praxis.
Ob diese aber nur im schwächlichen, halbbewußten und blinden Reagieren besteht oder zum kraftvollen, wissensklaren und zielbewußten Wirken wird, entscheidet der Entwicklungszustand des Geistes, der Grad an Geistesdisziplin.
Geistesdisziplin schärft nicht nur den Blick für die Widersprüche und Bewegungsgesetze der sog. objektiven Außenwelt, sondern erkennt auch den Widerstreit der inneren Handlungsantriebe, der Motive des Ichs.
Der Buddhist ist sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen bewußt, aber er vermag auch seine positiven Kräfte richtig einzuschätzen. Er bildet sich nicht ein, im großen politischen Rahmen die Welt verbessern zu können, wenn er schon mit sich selbst, mit seiner Familie und mit seinen Arbeitskollegen in Unfrieden lebt. Aber er kämpft Tag für Tag für eine Verbesserung dieser unbefriedigenden Wirklichkeit. Der Erfolg mag anfangs gering sein, aber er bringt doch mit Sicherheit eine bessere Ausgangsposition für den nächsten Schritt.
Wer meint, daß dieser Kampf allenfalls eine "kleine heile Welt" zustande bringt und "im Grunde doch nichts ändert", hat nicht begriffen, was Wirklichkeit ist. Denn wenn schon das dialektische Denken die Wirklichkeit in Ich und Umwelt spaltet, so bleibt doch zumindest das empfindende und handelnde Ich Erfahrungszentrum und Aktionsquelle seiner Umwelt, nur mit dieser kann es in Wechselwirkung treten und in eben dieser Wechselwirkung liegt seine ganze Wirklichkeit beschlossen. Wer den Begriff "Obst" für wesentlicher und realer hält als den Apfel, in den er gerade beißt, dem ist schwer zu helfen. Wer sich selbst nicht kennt und die eigenen Schwierigkeiten auf immer allgemeinere, umfassendere, "objektive" Problemkreise projiziert, dem verschwimmt bald jeder brauchbare Praxisansatz.
Das dilettantische Herumbasteln an neuen Gesellschaftsformen ist ein Ausdruck
dieser verkannten und verdrängten Wirklichkeit, manchmal auch eines gelinden
Größenwahns. Das heißt natürlich nicht, daß jede politische Praxis in größerem
Rahmen sinnlos wäre, aber sie eignet sich eben nicht als Beschäftigungstherapie
für Neurotiker. Gesellschaftliche Praxis beginnt mit der Änderung des eigenen
Verhaltens, beginnt beim Ich. Die Gesellschaft wird zunächst nur mit einer
positiven Resonanz in der nächsten Umgebung antworten. Mit wachsendem Vertrauen
und wachsenden Kräften verbreitert sich aber nach und nach das Wirkungsfeld, und
es gibt hervorragende Buddhisten, die ihre Fähigkeiten sinnvoll für das ganze
Volk nutzbar machen können.
Die Wirklichkeitslehre Buddhismus umfaßt den ganzen Menschen und seine ganze
Wirklichkeit, und die Praxis des Edlen Pfades ist Wirklichkeitsveränderung von
umfassender Gründlichkeit.
Betrafen die vorigen Pfadglieder die Praxis unter dem Hauptaspekt der Veränderung der Umwelt, so dienen die letzten drei Pfadglieder Rechte Anstrengung, Rechte Achtsamkeit und Rechte Sammlung der Veränderung des Ichs. Dies sind die Pfadglieder, mit denen die Entfaltung der Geistesdisziplin erreicht werden kann. Und hier, in einem mit Ruhe, Klarheit und Konzentration gesegneten Augenblick, mag es einem plötzlich wie Schuppen von den Augen fallen:
Diese Gesellschaft ist nicht zufällig unsere Gesellschaft. Sie ist genau die, die unserer eigenen Entwicklung entspricht. Alle unsere Lebensumstände, auch die Gesellschaft, ja selbst unser eigenes Ich sind KAMMA (Karma), sind naturgesetzliches Resultat unseres Wirkens. Schließen wir die Augen vor dieser Tatsache, so verdrängen wir unsere eigene Realität. Die Gesellschaft bietet das getreue Spiegelbild unserer eigenen Zerrissenheit, Unzulänglichkeit und Schwäche.
Und in der Tat: Sind wir es nicht gerade, die vom materiellen Überfluß dieser
Gesellschaft profitieren und nicht danach fragen, wie er zustande kommt? Sind
wir nicht stillschweigend einverstanden mit der "Freiheit" des rücksichtslosen
Konkurrenzkampfes, weil wir gerade die Stärkeren sind? Und fühlen wir uns etwa
verantwortlich für das Heer von Verbrechern, Suchtkranken, seelischen und
körperlichen Krüppeln, für die Selbstmörder und die zerbrochenen Ehen, für all
die Schwachen, die an dieser Gesellschaft gescheitert sind? - Verurteilen ist
leicht, Verbesserungsvorschläge machen schon schwerer, aber in der Gesellschaft
unser eigenes nacktes Spiegelbild zu sehen und mit wirklicher Praxis bei uns
selbst zu beginnen, fällt am schwersten.
Überhaupt müssen wir wieder sehen lernen, müssen wir uns durch das Gestrüpp der
Vorurteile und Meinungen durcharbeiten zur klaren Wirklichkeitserkenntnis. Die
Entfaltung von Geistesdisziplin ist der beste Weg hierzu. Sie lehrt das Denken,
seine Nahrung mehr und mehr direkt aus der Erfahrung zu ziehen, ohne diese
wichtigste Erkenntnisquelle durch vorschnelles Urteilen weiter zu vergiften.
Denken löst sich mehr und mehr von der statischen Begriffswelt, wurzelt langsam
in die Wirklichkeit ein und mündet in die wissensklare Praxis. Ob das Denken die
Wirklichkeit brauchbar widerspiegelt, kann nur diese Praxis beweisen.
Aber nicht nur die Qualität des Denkens, sondern auch die der Erfahrung erfährt eine zunehmende Veränderung. Je mehr sich die Erfahrung den begrifflichen Fesseln des Intellekts entwindet, desto unmittelbarer und vollständiger entfaltet sich in ihr die Wirklichkeit. In der höchsten Stufe der Geistesdisziplin, im Hellblickswissen (Klarblickwissen), fallen Erfahrung und Denken schließlich zu einer einzigen totalen Wirklichkeitsschau zusammen. Die Abgrenzung des Bewußtseins in der Ich-Vorstellung ist durchbrochen; Ich und Umwelt erweisen sich als leere Begriffspole des Intellekts und verschmelzen zu einem einzigen Daseinsprozeß. Denken bewegt sich dann nicht länger in einer gesonderten Begriffswelt; es ist, wie Dahlke sagt, in die Wirklichkeit selbst eingeschnellt.
So öffnet sich vor uns der Weg zur friedlichen Veränderung der Gesellschaft,
zur umfassenden Selbstverwirklichung des Menschen und zur schließlich völligen
Befreiung von der Daseinsfessel: Es ist der Achtfache Edle Pfad, den der Buddha
schor vor zweieinhalbtausend Jahren gelehrt hat.
Wenn wer auch tausend-tausend Mal
Die Feinde in der Schlacht besiegt
Wer einzig nur sein Selbst besiegt,
der, wahrlich, ist der Schlachtenheld!