Puggala Paññatti - Das Buch der Charaktere

Vorwort

 

Die in der Pālisprache abgefaßten Schriften der Buddhisten bestehen aus drei großen Sammlungen, dem sog. Tipitakam, auf deutsch "Dreikorb". Die erste dieser Sammlung, das Vinaya-Pitakam, enthält im großen und ganzen nur die für das Mönchsleben in Betracht kommenden äußeren Regeln und Bestimmungen und ist wohl zum großen Teile späteren Ursprungs. Die eigentlichen Erlösungslehren, wie sie in den "vier heiligen Wahrheiten" zum Ausdruck kommen, werden in der bei weitem wertvollsten und wichtigsten zweiten Sammlung, dem Sutta-Pitakam, behandelt, das man daher mit Recht als die älteste authentische Darlegung der Lehre des Meisters betrachten kann. Die dritte Sammlung, das Abhidhamma-Pitakam, enthält fast durchweg nur physiologische und psychologische Abhandlungen und Erklärungen. Obzwar die letzteren alle mehr oder weniger auf Aussprüche und Lehren des Sutta-Pitakam zurückgehen und dieselben physiologisch und psychologisch zu erklären suchen, hat man ihre Entstehung zweifellos in eine spätere Zeit zu verlegen, was denn auch keiner, der auf Grund des Sutta-Pitakam in den echten Geist der Buddhalehre eingedrungen ist, jemals ernstlich in Abrede stellen wird.

Das Abhidhamma-Pitakam umfaßt folgende zum Teil sehr umfangreiche Werke:

Von oben genannten Werken wurde außer Dhammasangani (engl. Übersetzung v. C. Rhys Davids, Psychological Ethics) noch nichts in eine europäische Sprache übertragen, und was Puggala-Paññatti anbetrifft, ist dasselbe, meines Wissens, noch in keine einzige Sprache der asiatischen Buddhisten übersetzt, wie z. B. ins Birmanische, Siamesische, Cambodische, Sinhalesische oder Bengalische.

 

Als Textvorlage diente mir die in sinhalesischer Schrift angefertigte Ausgabe (Colombo, 1900, Ratanajotittherena samsodhetvābbisankhatam), die an Genauigkeit leider vieles zu wünschen übrig läßt. Bei Anfertigung der Übersetzung haben die in birmanischer Schrift herausgegebenen drei Kommentare Buddhaghoso's: Atthasālini, Sammohavinodani und Pañcapakaranatthakathā als auch die Abhidhammamúlatika Anandācariyo's die gehörige Berücksichtigung erfahren. Bei Übersetzung der Zweier-Darstellung, Dukaniddeso, ist mir die englische Übersetzung von Dhammasangani sehr zu statten gekommen und hat mir an manchen Stellen die Übersetzung schwer verständlicher Begriffe sehr erleichtert.

Wie schon aus dem Titel Puggala-Paññatti, wörtl. "Beschreibung der Individuen", hervorgeht, haben wir es hier keineswegs bloß mit Beschreibungen wirklicher Zustände, sog. Realitäten, paramatthadhammā, zu tun, denn der Begriff "Individuum" ist kein " realer Begriff ", paramattha- oder vijjamānapaññatti, keine Bezeichnung eines an sich wirklich daseienden und beharrenden Etwas, sondern ein bloßer "konventioneller Name", sammuti-paññatti, für eine unermeßliche Summe von Augenblick zu Augenblick sich ändernder, also in jedem Augenblicke eine andere Zusammensetzung bildender, materieller und geistiger Zustände, und eben diese momentanen Zustände sind als solche als die eigentlichen und zugleich einzigen wirklichen (aktuellen) Realitäten zu betrachten. In dem Abhidhammatthasangaho Anandācario's werden daher in Hinsicht auf Realität und Nichtrealität sechserlei Begriffe unterschieden:

1. ein realer Begriff, vijjamāna-paññatti;
2. ein nicht realer Begriff, avijjamāna-paññatti;
3. ein nicht realer Begriff, bestimmt durch einen realen Begriff, vijjamānena avijjamāna-paññatti;
4. ein realer Begriff, bestimmt durch einen nicht realen Begriff, avijjamānena vijjamāna-paññatti;
5. ein realer Begriff, bestimmt durch einen anderen realen Begriff, vijjamānena vijjamāna-paññatti;
6. ein nicht realer Begriff, bestimmt durch einen anderen nicht realen Begriff, avijjamānena avijjamāna-paññatti.

 
1. Reale Begriffe sind z. B. Sehorgan, Hörorgan, Gefühl, Wahrnehmung, Wille, Bewußtsein, Gier, Haß, kurzum alle Bezeichnungen materieller und geistiger Daseinsformen.
2. Nicht reale Begriffe sind z. B.: Baum, Haus, Wagen, Fluß, Mensch, Tier, Individuum, Ich, Du, Er, König, Mönch, Buddha, Sāriputto, Vater, Sohn usw.
3. In dem Begriff "Leidensgefährte" ist der nicht reale Begriff "Gefährte" näher bestimmt durch den realen Begriff "Leiden" (Gefühlszustand).
4. In dem Begriff "Menschenliebe" ist der reale Begriff "Liebe" (geistiger Zustand) näher bestimmt durch den nicht realen Begriff "Mensch".
5. In dem Begriff "Sehbewußtsein" ist der reale Begriff "Bewußtsein" näher bestimmt durch den realen Begriff "Sehen".
6. In dem Begriff "Buddhajünger" ist der nicht reale Begriff "Jünger" näher bestimmt durch den nicht realen Begriff "Buddha".—

 

Da vorliegende Übersetzung vorzugsweise für den mit der Lehre des Buddha sympathisierenden, beständig wachsenden deutschen Leserkreis bestimmt ist, so habe ich es für angemessen gehalten, wenigstens innerhalb des Textes, nur solche Anmerkungen zu bringen, die auch dem der Pālisprache Unkundigen verständlich sind. Dabei bin ich bestrebt gewesen, soviel wie möglich, nur Stellen aus dem Sutta-Pitakam, dieser Fundgrube der echten, ursprünglichen Meisterworte, als Erläuterungen, bez. Bestätigungen anzuführen.

Es mag hier noch bemerkt werden, daß Puggala Paññatti das einzige Werk des Abhidhammo ist, in welchem nicht etwa, wie es in den übrigen Büchern dieser Sammlung geschieht, die Wahrheiten paramatthavasena, d. i. in rein philosophischer Sprache, dargelegt werden, sondern, wie auch meist in den Reden des Sutta-Pitakam., als neyyatthā dhammā (cf. Anguttara Nikayo, Zweier-Buch, 20. Rede) durch die "konventionelle Ausdrucksweise" gleichsam verhüllt sind, weshalb denn auch dieses Werk hinsichtlich des Stiles und Inhaltes sich gar wenig von den Büchern des Sutta Pitakam unterscheidet. Überdies findet sich fast die ganze Zweier- und Dreier-Darstellung, duka- und tika-niddeso, im Dreier- und Vierer-Buch des Anguttara-Nikāyo wieder. Auch in der Einer-Darstellung, eka-niddeso, stoßen wir auf zahlreiche Erklärungen wichtiger termini technici, die, teils wörtlich, teils mit kleinen Varianten, im Majjhima- und Anguttara-Nikāyo anzutreffen sind.

 

Ceylon, Gonamatāwe b. Bandarawela,
am 15. August 1909.
Nyanatiloka.
 

Namo Tassa Bhagavato Arahato Sammasambaddhassa!
Verehrung Ihm dem Erhabenen Heiligen vollkommen Erwachten



Aussprache der Pāli-Wörter.

 
Vokale

kurz: a, i, u;
lang: ā, í, ú;
e und o sind lang, ausgenommen vor Doppelkonsonanz.

Konsonanten

c = tsch; j = tönendes dsch (also = engl. j in juice);
ñ = nj in ein jeder;
n und m = ng in lang, Ring, jung;
v = w;
kh, gh, ch, jh, th, dh, th, dh, ph, bh gelten als einfache Konsonanten und sind mit unmittelbar nachstürzendem Hauche zu sprechen, also etwa:
kh wie in Bankhaus,
th wie in Rathaus,
ch wie tschh in klatschhaft. 


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